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Adventskalender Türchen 1

Willkommen in Silver Pines

~ Winter Harmony – 24 Tage bis zurück zu dir ~

Tucker 

01.12.2025

Die Kälte kriecht selbst durch meine dicken Winterklamotten und der Wind beißt mir ins Gesicht an diesem ersten Dezembermorgen. Es ist wie in jedem verfluchten Jahr: Das Silver Pines Winterlights-Festival kommt so plötzlich, dass wir immer zu spät mit dem Aufbau anfangen. Bis die Pläne stehen, weil es jedes Jahr anders, überraschend für die Gäste, aber auch für die Einheimischen werden soll.

Deswegen stehe ich jetzt hier, trete einen Schritt zurück, um die Holzhütte zu betrachten, die ich gerade ausrichte, und versuche zu verdrängen, wie viele Arbeitsstunden ich in diesem Jahr in die Stände für das Festival stecke. Morgen Abend findet die Lichterprobe statt, zwei Tage später die feierliche Eröffnung, und es endet am Weihnachtsmorgen. 25 Tage weihnachtliche Gefühle, und als Schreiner bin ich dafür verantwortlich, dass es Verkaufsmöglichkeiten für die vielen kleinen Geschäfte gibt, die auf dem Festival dabei sein werden.

53 in diesem Jahr.

Hütte Nummer 50 ist gerade in der Fertigstellung, während die Jungs aus dem Ort, die mir helfen, mit Nummer 51 anfangen.

Warum bin ich, Tucker Boone, immer der Idiot, der letztlich dafür sorgen muss, dass es wieder aussieht wie in einem kitschigen Film? Noch hat es nicht einmal geschneit und der Boden ist eher eine Matschwüste, als winterlich.

»Boone, ich glaube, hier stimmt was mit der Statik nicht!«, ruft mich einer der Jungs.

Das muss noch einen Moment warten, erst muss ich die letzte Dachlatte an der Hütte hier verschrauben, bevor ich mich um andere Probleme kümmern kann. Ich hebe die Hand, signalisiere ihm, dass ich ihn gehört habe, und atme erst mal durch. Mein Platz hier oben auf dem Dach ist eigentlich ganz angenehm – gut, schwindelfrei sollte man in meinem Job nicht sein, aber damit hatte ich noch nie ein Problem. Wenn ich auf Dächern arbeite, bin ich frei, und wenn ich jemanden nicht hören will, dann kann ich jederzeit so tun, als würde ich das nicht. Gut, bei einer kleinen Hütte geht das nicht, aber sonst … Außerdem liebe ich die Arbeit mit Holz. Den Geruch, die Möglichkeiten. Deshalb habe ich nach dem College direkt meine eigene Schreinerei eröffnet. Damals ist der alte Schreiner in Silver Pines in Rente gegangen. Es war die perfekte Gelegenheit – keine Konkurrenz, Stammkunden. Ich lebe schon mein ganzes Leben hier, da war es nicht schwer, die Kunden zu halten.

Vor zehn Jahren war das.

Ich greife nach einem Nagel in meiner Arbeitshose und hämmere ihn in die letzte Latte, bevor wir die Dachpappe aufziehen können. Dann muss der Rand des Daches nur noch mit Lichterketten geschmückt werden, fertig.

Silver Pines im Winter ist Weihnachten. Braucht Weihnachten.

Im Sommer haben wir ein Musikfestival, das weit über die Grenzen Montanas bekannt ist. Und vor rund zehn Jahren hat die Stadt entschieden, dass wir auch etwas brauchen, das im Winter die Touristen anzieht. Das Winterlights Festival wurde geboren.

»Tucker, bist du mit der Hütte gleich durch?«

Claire steht unten, mit einer Kiste. Sie hat ein kleines Café im Ort, dort gibt es die besten Torten und Süßigkeiten, und das hier wird ihre Hütte.

»Ja, dauert nicht mehr lange, du kannst die Lichterketten schon mal entwirren«, rufe ich ihr zu, und sie lacht. Claire hat ein Herz aus Gold. Jeder in Silver Pines liebt sie.

Dieser Dezember fühlt sich an wie jeder in den letzten zehn Jahren.

Arbeiten, frieren, reparieren, aufbauen.

Gleichzeitig tue ich so, als hätte ich mein Leben im Griff und würde die Kommentare nicht hören, die sie hinter meinem Rücken tuscheln: Tucker, der ewige Junggeselle.

Ich versenke den letzten Nagel in der Dachpappe und rutsche an den Rand des Daches, um über die Leiter nach unten zu klettern. Wie gut, dass sie nicht alles wissen, hier in Silver Pines. Es gibt noch genügend andere Städte im Umkreis, wo man Frauen kennenlernen kann. Aber mehr als eine Affäre war irgendwie auch nicht drin, seit …

»Ach Tucker, wieso kamen diese Gedanken immer wieder? Genauso verlässlich wie Weihnachten?«

Ich greife nach meiner Thermoskanne, trinke einen Schluck Kaffee, und der Dampf des Getränks wärmt mein Gesicht ein wenig. Dabei lasse ich meinen Blick über den Platz schweifen. Überall an den fertigen Hütten wird eifrig geschmückt, Hütte Nummer 51 steht auch fast, da muss ich gleich den letzten Feinschliff machen. Die Jungs haben es inzwischen voll drauf und ich denke, wir werden rechtzeitig fertig, bis heute Abend das Festival eröffnet wird. Erste Lichterketten flimmern, der Weihnachtsbaum in der Mitte des Platzes ist bereits festlich geschmückt und wartet nur darauf, eingeschaltet zu werden. Irgendwoher kommt eine Melodie. Silent Night oder White Christmas? Ich kann es nicht ganz ausmachen.

Starre kurz in den Himmel. Schnee wäre gut. In Richtung der Berge türmen sich dunkle Wolken. Es könnte also noch etwas werden. Hoffen wir nur, dass es nicht zu viel schneit, das wäre auch schade für das Fest.

»Tuck, meinst du, du kannst mir mit den Lichterketten helfen?« Claire taucht neben mir auf und deutet auf den Karton in ihren Armen. »Ralph kann noch nicht weg aus seinem Laden und ich wollte das schnell erledigen.«

»Natürlich.« Das Dach von Nr. 51 würde warten müssen. Bisher waren diejenigen, die sie gemietet hatten, auch noch nicht aufgetaucht.

»Prima! Ich hole noch schnell die Tannenzweige, die müssen auch an das Vordach.«

Ich lache. »Natürlich.«

Wie gut, dass ich eine Heftpistole dabei hatte, sonst würde ich wohl ewig bei Claire festhängen.

Als meine Thermoskanne wieder in meiner Tasche verstaut ist, schiebe ich mir die Leiter zurecht und Claire reicht mir die Tannenzweige, die ich zuerst an das Vordach tackere. Wir kommen gut voran und schon bald erstrahlt die Hütte mit einer grünen Mütze – oder wie immer man das nennen mochte.

Als ich mich umdrehe, um Claire den Anfang der Lichterkette abzunehmen, bemerke ich eine Gestalt, die mit einem Rollkoffer den Platz überquert.

Langsam. Als wäre sie sich nicht sicher, was sie da tut.

In einem langen Mantel.

Unter der Mütze lugen braune Haare hervor.

Diese Gestalt …

Mein Herz setzt einen Schlag aus.

Nein.

Das konnte nicht …

Jetzt bleibt die Gestalt stehen. Schiebt sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht und ihr Profil ist unverkennbar.

Alles in mir zieht sich zusammen und ich muss mich an der Leiter festklammern, um nicht herunterzufallen.

Lila.

Lila Monroe.

Fuck.

»Tucker? Alles okay da oben? Du siehst so blass aus.«

Claire reißt mich aus dem Anblick von Lila und ich zwinge mich, nach der Lichterkette zu greifen. Ich habe hier einen Job zu erledigen, verdammt.

»Alles gut, Claire.« Sie kann wegen der anderen Hütte nicht sehen, was ich sehe. Glücklicherweise, denn natürlich hätte sie Lila sofort erkannt. Alle kennen Lila. Alle wussten von … uns. Damals.

Verbissen tackere ich die Lichterkette an das Vordach, doch ich spüre Lilas Anwesenheit bei jedem Atemzug in meinem Rücken. Was will sie hier? Warum jetzt?

Als ich die Leiter umstellen muss, sehe ich automatisch zu ihr, bevor ich hinunterklettere.

Sie sieht dünn aus, selbst in diesem Wintermantel. Müde.

Aber gleichzeitig ist sie einfach die Frau, die ich vor zehn Jahren am Rand meiner ersten eigenen Werkbank geküsst habe.

Die Erinnerung daran ist noch immer so präsent … Ich zwinge mich zu atmen.

Lila läuft weiter, kommt näher zu mir und ich steige die Leiter hinab.

Stelle sie um und hoffe, dass Lila mich nicht entdeckt.

»Lila?«

Claire hat sie gesehen. Jetzt gibt es kein Entkommen.

Als ich aufsehe, tritt Lila zwischen den Holzhütten hervor, so vorsichtig, als wäre Silver Pines nicht ihre Heimat. Hebt die Hand zum Gruß an Claire und dann trifft ihr Blick meinen.

Es ist, als würde mich jemand in die Magengrube boxen und mir für einen Moment den Atem rauben.

Ich starre sie an und weiß es.

Weil ich nicht anders kann.

Claire sagt etwas zu ihr, doch ich höre es nicht. Lila antwortet, doch ihr Blick bleibt bei mir.

Passiert das hier gerade wirklich?

Eben war ich einfach nur Tucker, der wie jedes Jahr die Buden für das Winterlights Festival aufbaut, und jetzt plötzlich bin ich der Tucker, der Lila so sehr vermisst hat, dass er es damals kaum ausgehalten hat, als sie einfach gegangen ist.

Lila hebt die Hand und winkt mir. Es ist so eine vorsichtige Bewegung, als hätte sie Angst, dass sie mich damit in die Flucht treibt.

Ich stelle die Leiter noch ein Stück um, weil ich einfach etwas tun muss. Dann räuspere ich mich, reibe mir die Hände an meiner Arbeitshose ab und trete zu ihr.

»Lila.« Etwas Schlaueres fällt mir nicht ein? Und warum kratzt meine Stimme so?

Claires Anwesenheit und die aller anderen bin ich mir auch nur allzu deutlich bewusst. Aus dem Augenwinkel kann ich sehen, dass sie uns alle anstarren.

Lila lächelt. Aber es ist unsicher, nicht mehr so stark und schon gar nicht so glücklich, wie damals.

»Überraschung«, sagt sie und breitet die Arme aus.

Sieht so jemand aus, der die Welt mit seinem Talent erobern wollte? Ich weiß nicht, was ich erwartet habe. Aber so wie Lila gerade wirkt, kommt es mir vor, als wäre sie in eine Schlacht gezogen, die sie von Anfang an nicht hatte gewinnen können. Sie sieht … niedergeschlagen aus. Ich sehe sie mir genau an. Ihre Augen, die so müde wirken und ihren Glanz verloren haben. Den, den ich so anziehend fand. Der nach Abenteuer schrie. Sie ist wirklich dünner geworden, aber das brachte wahrscheinlich ihr Beruf mit sich. Und dann entdecke ich noch was. Einen Stützverband um ihr Knie. Einen, den man über der Hose tragen kann, um das Gelenk zu stabilisieren. Viele meiner Kumpels hatten so was schon durch Sportverletzungen tragen müssen.

Sie versucht es zu verstecken, indem sie ein Bein vor das andere stellt, aber ich sehe es trotzdem.

»Du hast dich verändert«, sage ich, und es ist dumm. Obwohl es wahr ist. Aber nach zehn Jahren ist es eben normal, dass man sich verändert.

Lila hält meinem Blick stand, doch sie presst die Lippen zusammen. Sie zucken. Ich kann es erkennen. Sie ist nicht verletzt oder wütend. Eher wirkt sie, als hätte ich sie ertappt.

»Wie kommt es, dass du hier bist?«, hake ich nach. Neutral. Nicht wütend. Nicht verletzt.

»Ich … ich«, stottert sie, ehe sie sich räuspert. »Es war Zeit, ich war lange nicht hier und meine Eltern brauchen Hilfe in der Galerie. Ich bleibe bis nach den Feiertagen.«

Ich kneife die Augen zusammen. Das klingt mir alles … nur wie die halbe Wahrheit. Vivian und Jasper, ihre Eltern, brauchten öfter mal Hilfe in der Galerie, und bisher konnten wir ihnen immer helfen. Was war an Weihnachten dieses Jahr anders?

Will sie mich anlügen? Oder beschützt sie sich selbst?

Ich weiß es nicht.

Ich habe Angst, dass ich sie nicht mehr kenne.

Doch ich weiß, ich werde es herausfinden.

»Tucker!« Es ist einer der Jungs, die mir beim Bau der Hütten helfen. Eine der Wände ihrer Hütte ist nicht in Waage. Ich sollte ihnen helfen. Sonst werden wir nicht fertig und ich muss noch die Lichterkette fertig aufhängen.

Aber ich kann mich einfach nicht bewegen. Nicht weg von Lila, deren Duft mir in die Nase steigt, gemischt mit dem Geruch nach Schnee, Kälte und etwas, das mein Herz mehr erwärmt, als es sollte. Wie lange habe ich mich gezwungen, nicht an Lila zu denken?

»Willkommen zurück, Monroe«, höre ich mich sagen. Ich weiß, dass sie es nicht mag, wenn ich nur ihren Nachnamen sage, doch etwas in mir zwingt mich, es zu tun. Als wäre es leichter, sie zu ärgern, als ihr zu sagen, wie es mir wirklich damit geht, sie zu sehen.

»Danke.« Nur ein Wort und darin liegt so viel … Traurigkeit? Müdigkeit?

Ich muss gehen. Jetzt. Sie war zehn Jahre nicht da, da kann ich nicht einfach alles stehen und liegen lassen, nur weil sie sich entschieden hat, jetzt wieder aufzutauchen, als wäre nichts gewesen.

Außerdem habe ich viel zu viel Angst davor, zu hören, dass sie wieder gehen wird. Und das wird sie und dann werde ich sie fragen, warum es sich wieder so anfühlen wird, als würde jemand mir mein Herz stehlen.

Ich nicke ihr kurz zu und greife nach der Leiter, um wieder nach oben zu steigen. Auf halbem Weg halte ich inne und sehe sie noch einmal an.

»Lila?«

Auch sie wollte gerade gehen, denn Claire ist nicht mehr da. Ich habe es nicht einmal bemerkt. Sie bleibt stehen und dreht sich zu mir um.

»Ja?«

Ihr Blick trifft mich so intensiv wie damals, als ich sie das erste Mal im Sommerregen tanzen sah.

»Ich bin froh, dass du gesund angekommen bist.« Weil es stimmt. Und weil ich mehr nicht sagen könnte, aber wenn ich das hier nicht sagen würde, würde ich lügen, und das will ich nicht.

Sie schenkt mir eines ihrer typischen Lila Lächeln, wenn sie in Gedanken schon ganz woanders ist.

Dann geht sie und ich beobachte sie, bis sie an der Galerie ihrer Eltern angekommen ist. Stehen bleibt und noch mal zurücksieht. Zu mir. Hitze schießt durch meinen Körper und als Lila in die Galerie tritt, bemerke ich, dass ich die ganze Zeit nicht geatmet habe.

Fuck. Lila Monroe ist zurück.

Und sie bleibt bis nach Weihnachten, mindestens.

Heute ist erst der 1. Dezember. 24 Tage, bis zum Weihnachtsmorgen. Und ich weiß nicht, ob ich das überleben werde.

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Lila

Ich spüre seinen Blick in meinem Rücken, als ich meinen Koffer umklammere, als wäre es eine Rettungsboje, und weiter über den Platz laufe. Es kostet mich all meine Kraft, mich nicht noch einmal umzudrehen. Denn ich weiß nicht, wie ich reagieren würde, wenn ich Tucker noch dort stehen sehen würde und er mir hinterhersieht. Noch schlimmer wäre es aber wohl, wenn er es nicht tut. In meinem Magen rumort es und ich weiß nicht, ob es Freude ist oder ob ich mich gleich hinter dem nächsten Baum übergeben muss.

Warum fasst mich das Wiedersehen mit ihm so an? Es ist nicht so, als ob ich nicht wüsste, dass er noch hier ist. Er hat nicht nur seine Wurzeln hier, sondern auch sein Geschäft, und auch wenn ich mit meinen Eltern selten über Tucker spreche – sie hätten mir gesagt, wenn er Silver Pines verlassen hätte. Ich wusste also, dass ich auf ihn treffen würde. Besonders zu Weihnachten. Aber egal, wie oft ich mich auf dem Weg nach Silver Pines daran erinnert, ein- und ausgeatmet habe und mir eingeredet habe, dass ich damit klarkommen werde … Ihn zu sehen hat mich aus der Bahn geworfen und ich kann es nicht leugnen. Da kann ich noch so oft vor hunderten Menschen getanzt, gesungen, gekämpft haben. Sein Blick. Dieser vertraute Blick, in dem ich immer noch den Schmerz erkennen kann, den ich ihm zugefügt habe … der macht mir weiche Knie.

Er hat sich auch kaum verändert … Gut, seine Haare sind viel länger als damals und der Bart ist neu. Aber ich kann nicht sagen, dass es ihm nicht steht. Im Gegenteil, alleine der Gedanke … und seine blauen Augen leuchten noch genauso wie damals.

Als ich vom Platz in die Straße laufe, die zur Galerie meiner Eltern führt, erwischt mich eine Böe des eiskalten Windes, aber deswegen ist mir nicht kalt.

Zehn Jahre war ich nicht mehr hier. Habe meine Eltern immer nur außerhalb dieser Stadt getroffen, die bis zu meinem 21. Lebensjahr mein Lebensmittelpunkt war, aber mich nie halten konnte. Jetzt prasseln alle Erinnerungen auf mich ein. Silver Pines war für mich immer zu eng, aber im Winter habe ich das schon früher als besonders empfunden. Wie eine Schneekugel, die jemand zu stark schüttelt.

Die Häuser, an denen ich vorbeigehe, kenne ich aus meiner Kindheit. Sie haben sich kaum verändert. Vielleicht eine andere Farbe, andere Besitzer, aber eben immer noch Silver Pines. Trotzdem fühlen sie sich fremd an. Verändert. Aber das mag auch an mir liegen. Ich bin anders. New York hat mich verändert. Eingesaugt.

Und nun wieder ausgespuckt.

Als ich die Galerie meiner Eltern erreiche, bleibe ich stehen. Sehe an der Fassade nach oben. Unten die Ausstellungsräume, oben das Apartment, in dem ich aufgewachsen bin.

Monroe Art & Fine Photography steht in geschwungenen Buchstaben über dem Eingang. So wie es immer war. Meine Eltern organisieren Ausstellungen, aber man kann bei ihnen auch Rahmen für Bilder bekommen, und mein Dad ist als Fotograf für sicherlich viele der in den Häusern hängenden Familienporträts verantwortlich. Meine Mom ist Malerin und stellt regelmäßig hier aus.

Licht dringt aus den hinteren Räumen in die Galerie, die heute geschlossen ist.

Ich atme tief ein und greife nach dem Türgriff.

Als ich hineingehe, klingelt ein Glöckchen – auch wenn offiziell geschlossen ist, haben meine Eltern immer ein offenes Haus für alle, die etwas von ihnen brauchen.

Direkt trifft mich der typische Geruch nach Farbe und Terpentin, der in der Luft hängt wie ein Versprechen nach Kreativität – das Atelier meiner Mutter liegt direkt hinter den Ausstellungsräumen.

Der Geruch meiner Kindheit. Viel stärker in meiner Erinnerung als der nach dem Geruch von Keksen, frisch gebackenem Kuchen oder der Preiselbeersauce zu Thanksgiving – meine Mom liebt es zu kochen.

Mein Herz wird schwer und ich zwinge mich zu einem Lächeln, als meine Mom aus dem Atelier kommt.

»Lila?« Ihre Stimme ist so weich wie immer, durchtränkt von Überraschung, denn ich habe ihnen nicht gesagt, dass ich kommen würde. Sie hat einen Pinsel im Haar, ihre Schürze voller Farbflecken, so wie ich sie immer vor mir sehe, wenn ich an sie denke. Jetzt starrt sie mich an, als würde sie träumen.

»Hey«, sage ich, stelle meinen Koffer ab und breite meine Arme aus. »Überraschung.« Es klingt fast wie eine Frage und ich weiß auch nicht wirklich, ob es eine gute Überraschung ist, die ich ihr biete.

»Lila?« Jetzt kommt auch mein Vater dazu, wahrscheinlich war er wieder in seiner Dunkelkammer, denn er hält noch eine der Pinzetten in der Hand, mit der er zu entwickelnde Bilder von einer Lösung in die nächste bugsiert.

»Ja, ich bin es wirklich«, sage ich überflüssigerweise, und im nächsten Augenblick kommen beide auf mich zu und umarmen mich.

»Es ist so schön, dass du da bist«, sagt mein Vater und drückt mich fester und länger, als ich es erwartet hätte. Meine Mom geht einen Schritt zurück, betrachtet mich, als würde sie den Fehler suchen, der mich hierher katapultiert hat. Sie wird ihn finden, da bin ich sicher – aber noch möchte ich ihn etwas vor ihr und meinem Dad verstecken.

»Wir haben nicht mit dir gerechnet«, sagt sie schließlich, und ich nicke.

»Es war eine spontane Idee. Ich …« Dann deute ich auf mein Bein. »Ich habe mich leider verletzt bei einer der Vorstellungen und falle für den Rest des Jahres aus.« Das wären 31 Tage. Das wäre ein Traum. »Deswegen dachte ich …«

»Das hast du gut gedacht«, unterbricht mein Dad mich. »Hier kannst du dich am besten erholen und wir können uns nichts Schöneres vorstellen, als dich hier zu haben.«

Meine Mom nickt bestätigend, während mein Dad nach meinem Koffer greift und zielstrebig die Galerie verlässt. Ich weiß, er wird ihn die Treppe hochtragen und in meinem alten Zimmer abstellen. Einem Kokon einer längst vergangenen Zeit. Aber es ist wohl genau das, was ich jetzt brauche. Oder?

»Essen ist auch gleich fertig.« Meine Mom hakt sich bei mir unter und ich bin sicher, sie hat sich noch nicht einmal überlegt, was es zu essen geben könnte – weil sie viel zu sehr im Flow ihrer Kreativität gefangen war. Aber das ist meine Mom. Gerade noch mitten in einem Bild, danach Chef de cuisine, damit es allen gut geht. »Oder bist du zu müde?«

Ihr Seitenblick spricht Sorge aus und ich hätte fast gelacht.

Zu müde. Es tut weh, nur darüber nachzudenken.

»Klar, ich freue mich. Ich habe dein Essen vermisst, Mom.« Nur die Hälfte davon ist gelogen.

Ich folge ihr in die Küche, während sie mir die neuesten Geschichten aus Silver Pines erzählt, so wie sie es auch machen würde, wenn ich in New York in meinem Apartment sitze und sie hier ist und wir telefonieren.

Die Küche ist warm, gemütlich, chaotisch. Aber so habe ich es als Kind immer geliebt und liebe es noch heute. Mir wird erst bewusst, wie sehr ich das vermisst habe in den letzten zehn Jahren, als ich mich an den alten Küchentisch setze, an dem meine Eltern so viel diskutiert haben mit ihren Freunden, wo die Ringe von Weingläsern von langen Nächten, Lachen und Diskussionen erzählen.

Sie schlägt mir vor, was wir essen könnten, und ich nicke zu allem. Mein Kopf ist ganz woanders.

Bei einem Mann vor einer Holzhütte. Die blonden Locken länger als vor zehn Jahren. Der Bart. Der noch immer nach frischem Holz, Leim und Kälte gerochen hat, wie ich ihn in Erinnerung habe. Sein Blick …

Tucker.

Ich habe ihn zehn Jahre nicht mehr gesehen. Ihn zehn Jahre aus meinem Gedächtnis versucht zu verbannen, und ein Blick aus seinen blauen Augen reicht, um die Mauer, die ich mühsam errichtet habe, einzureißen.

Ich presse die Lippen zusammen. Zwinge mich, meiner Mom zuzuhören und denke doch nur daran, was sein Blick bedeutet haben könnte.

Schmerz?

Freude?

Ablehnung?

Ich habe viel verloren und darf das hier nicht zulassen. Es würde mich endgültig zerbrechen.

Aber ich spüre seinen Blick noch immer auf mir, obwohl Tucker nicht hier im Raum ist und frage mich, ob das die nächsten 24 Tage noch so sein wird.

Ich hoffe, es hat euch ein wenig gefallen und ihr freut euch auf die kleine Geschichte von Tucker und Lila, die irgendwann – wenn alles klappt – einmal ein richtiger Roman werden will.

 

Sehen wir uns morgen zu Türchen 2?

Rockt on,

eure 

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