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Adventskalender Türchen 2

Lila

02.12.2025

Wie lange habe ich nicht mehr so erholsam geschlafen?

Monate? Wochen? Vielleicht sogar Jahre.

Als ich in meinem alten Kinderzimmer aufwache, ist es schon früher Nachmittag. Gestern habe ich noch lange mit meinen Eltern zusammengesessen. Wir haben einfach geredet, auch wenn ich ihnen nicht die ganze Wahrheit erzählt habe.

Die muss ich selbst erst einmal verdauen.

Meine Mom ahnt, dass da noch mehr ist, aber sie drängt mich nicht, und dafür liebe ich sie.

Mein Knie schmerzt, als ich mich aufsetze. Ein dumpfes, unangenehmes Ziehen, das mich daran erinnert, dass nichts mehr so ist, wie es einmal war. Das Knie wird heilen, aber …

Ich schiebe die Gedanken daran zur Seite, stehe auf und schiebe die Vorhänge am Fenster auf.

Es schneit.

Und das wohl schon seit einer ganzen Weile.

Ich öffne das Fenster, schließe die Augen und atme tief ein. Ich liebe den Geruch nach Schnee, und hier in Montana riecht es gleich noch mal ganz anders, als in New York, wo sich Autoabgase und der Geruch der Straße mit in den Schneeduft hineinmischen. In Silver Pines riecht es … unschuldig?

Aber ist es das?

Tucker kehrt in meine Gedanken zurück. Wie er mich angesehen hat. Mein Magen zieht sich zusammen. Ich bin hier. In Silver Pines. Wo er wohnt. Wäre es nicht eine Gelegenheit, alles mit ihm zu klären?

»Was gibt es da noch zu klären?«, murmele ich. »Ich habe ihn verlassen, weil ich meinen Traum leben wollte …« Und Tuckers Leben ging hier weiter. Was will er jetzt noch mit mir? Wo ich zurück bin und …

Nein. In dieses Rabbithole will ich mich nicht stürzen.

Seufzend schließe ich mein Fenster wieder, ziehe mich an und gehe hinunter in die Galerie. Ich habe meinen Eltern erzählt, dass ich hier bin, um zu helfen, und genau das tue ich.

Rahmen sortieren, Postkarten auffüllen, ein paar Besucher begrüßen. Ich führe sie durch die aktuelle Ausstellung, die meine Mom mir kurz erläutert hat. Alles wie früher, das verlernt man nicht. Alle freuen sich, weil meine Eltern gerade dabei sind, auch in diesem Jahr wieder eine Winterausstellung zu machen, und ich freue mich, weil es der Galerie so gut geht.

Ich rede mit allen.

Beantworte ihre Fragen. Die meisten kennen mich schon, seit ich auf der Welt bin. Sie sind neugierig. Wollen alles über New York wissen.

Ich lächle an den richtigen Stellen und bleibe vage, wenn die Fragen zu tief gehen. Silver Pines ist eine kleine Stadt. Jeder kennt jeden, alle wissen alles von allen.

Das wird noch schlimmer, wenn ich heute Abend mit meinen Eltern zur Lichterprobe für das Winterlights Festival gehe. Sie möchten gern, dass ich mitgehe. Mir grummelt der Magen, aber was soll ich sagen, wieso ich nicht möchte?

Ich kenne das Festival nicht. Es wurde eingeführt, als ich gerade weg war aus Silver Pines, aber meine Eltern schwärmen jedes Jahr und wirklich alle Bewohner der Stadt werden da sein.

Noch mehr Fragen. Noch mehr vage Antworten.

Und dann ist da Tucker.

Ich versuche schon den ganzen Tag, so zu tun, als hätte ich unser Wiedersehen zwischen Bilderrahmen, Acrylfarbe und Geschichten aus New York vergessen.

Wie es funktioniert?

Genau gar nicht.

Ich wünsche mir, dass es nie Abend wird. Rede mir ein, dass ich Tucker bei all den Menschen vielleicht gar nicht begegne. Mom meint, es ist immer viel los. »Fast so viel, wie wenn es übermorgen dann wirklich losgeht.«

Vielleicht habe ich Glück.

Als es beginnt, dunkler zu werden, füllt sich die Straße vor der Galerie. Menschen laufen in Grüppchen vorbei, Autos stehen in einer langen Schlange. Ich schlucke. Die Lichterprobe steht kurz bevor.

Dad schließt die Galerie um halb sechs und scheucht mich nach oben, damit ich mich umziehe.

»Es ist klirrend kalt draußen, Zuckerfee, zieh dich warm an.«

Als er meinen Kosenamen ausspricht, sticht es in meinem Herzen. So hat er mich schon immer genannt, seit ich denken kann. Die Fee aus dem Nussknacker. Weil ich schon, kaum dass ich laufen konnte, getanzt habe. Immer auf den Zehenspitzen. Als wäre ich als Ballerina geboren.

Damit er nicht sieht, wie mir die Tränen in die Augen steigen, husche ich die Stufen nach oben zu meinem Zimmer.

Es hat den ganzen Tag geschneit und Silver Pines sieht aus, als wäre es unter einer Schicht Puderzucker verschwunden.

»Lila?«, ruft meine Mom vom Treppenabsatz, »kommst du? Wir müssen los, wenn wir es nicht verpassen wollen.«

Ich gehe die Treppe nach unten und Mom schiebt mich fast aus der Tür. »Komm, du musst das sehen, Lila. Es ist jedes Jahr magisch.«

Ich gehe mit. Natürlich gehe ich mit.

Meine Eltern laufen eingehakt vor mir her. Ich einige Schritte hinter ihnen.

Es ist so schön zu sehen, wie gut sie sich nach all den Jahren noch verstehen, und es zeigt mir deutlich, wo ich mit meinen 30 Jahren stehe.

Ich bin Single.

Als meine Mom so alt war wie ich, war ich bereits sechs Jahre alt und sie war mit meinem Dad schon seit zehn Jahren zusammen. Sie malte erfolgreich, während mein Dad die Galerie und die Fotografie aufbaute.

Sie hatten ein Ziel.

Eine Zukunft.

Und ich?

Meine Zukunft hatte ich immer in New York gesehen. Dafür habe ich beinahe alle Brücken hinter mir abgebrochen – naiv, wie ich mit knapp 21 Jahren war.

Je näher wir dem Platz kommen, wo das Winterlights Festival stattfindet, desto mehr Menschen treffen wir, und am Ort des Geschehens herrscht ein unüberschaubarer Trubel. Kinder rennen quietschend zwischen allen herum, spielen fangen und werfen sich Schneebälle zu. Wenn es mal einen Erwachsenen trifft, wird gelacht, niemand ist gestresst, alle sind entspannt. In New York wäre schon ein handfester Streit entstanden, den am Ende nur die Polizei hätte lösen können.

In den Hütten sind viele noch dabei, zu schmücken und Waren einzuräumen. Immerhin geht es noch nicht um die Eröffnung, nur um eine Lichterprobe. Trotzdem ist die gesamte Stadt auf den Beinen, und ich bin sicher, dass auch viele Besucher aus Nachbarstädten und Touristen dabei sind.

Die Rückkopplung eines Mikros, lässt die Menge kurz verstummen und ich halte mir die Ohren zu. Ein Klopfen hallt aus den Lautsprechern, dann ertönt die Stimme eines Mannes.

»Der Bürgermeister«, flüstert meine Mom mir ins Ohr.

Nicht einmal den kenne ich. Meine Schuldgefühle wachsen und die Frage, warum ich überhaupt hierhergekommen bin.

Die Worte des Bürgermeisters schwemmen meine Gedanken fort.

»Herzlich willkommen zur Lichterprobe für das jährliche Winterlights Festival in unserem schönen Silver Pines. Wir danken allen Helfern, die das möglich gemacht haben. Allen voran Tucker Boone, der unermüdlich daran gearbeitet hat, die Hütten für alle rechtzeitig fertigzubekommen, gemeinsam mit jeder Menge Helfern.«

Applaus brandet auf und die Köpfe der Menschen um mich herum drehen sich in eine Richtung. Ich zwinge mich, mich nicht auf die Zehenspitzen zu stellen, um Tucker in der Menge zu suchen. Aber mein Herz kann ich nicht kontrollieren, das bei der Erwähnung seines Namens einen Sprung gemacht hat und ein Kribbeln durch meinen Körper sendet.

»Jetzt wollen wir euch aber nicht länger auf die Folter spannen und testen, ob alles bereit ist, das Winterlights Festival in zwei Tagen zu eröffnen.«

Das Mikro klickt, der Bürgermeister reckt den Daumen in die Höhe. Dann ertönt ein kurzes Summen und die Hütten werden eine nach der anderen in warmes Licht gehüllt, bis der große Weihnachtsbaum erreicht wird.

Und dunkel bleibt, so wie eine ganze Reihe von Hütten, die auf der anderen Seite des Baumes stehen.

Ein enttäuschtes Raunen geht durch die Reihen, bis ich eine Stimme höre, die mir Gänsehaut verursacht.

»Keine Sorge.« Tucker war neben dem Bürgermeister auf das Podest gestiegen, als wäre es sein Platz. »Dafür ist die Lichterprobe da. Ich verspreche euch, dass bis übermorgen alles funktionieren wird.«

Seine Stimme klingt ruhig, tief, warm. Sie nimmt den Platz ein, ganz ohne Mikrofon, und ich kann den Blick nicht von ihm abwenden.

Der Tucker, den ich kenne, hätte sich nie auf das Podest gestellt. Mein Magen wird ganz warm. Mir gefällt, was ich sehe.

Ich lächle und vergesse alles andere. Dass ich mich eben noch gefragt habe, was ich eigentlich zurück in Silver Pines wollte.

Auch wenn nicht alle Hütten und der Baum leuchten, sieht es wunderschön aus, wie die Flocken, die weiterhin vom Himmel fallen, im Glanz der kleinen Lichter glitzern.

Tucker steigt vom Podest, Gespräche setzen wieder ein, Gemurmel überall. Die Lichterprobe ist vorbei und ich beobachte Tucker, wie er seine Werkzeugtasche schultert, mit einigen Umstehenden spricht und auf den Baum sowie die unbeleuchteten Hütten deutet.

Sie werden noch eine Menge zu tun haben in den kommenden Tagen, aber ich weiß, dass er das schaffen wird.

Als er den Kopf dreht, findet er meinen Blick und ich erstarre. Kann nicht wegsehen.

Seine Mimik ist neutral.

Offen.

Eben einfach Tucker.

Ich hebe meine Hand und winke. Kann den Impuls nicht unterdrücken.

Er nickt als Erwiderung, und dann werden die Lichter ausgeschaltet und ich kann ihn nicht mehr sehen. Dunkelheit legt sich über den Platz, weil die Straßenbeleuchtung einen Moment braucht, um wieder in Gang zu kommen.

Als es wieder heller wird, ist er weg.

Den Stich, den das in meinem Herzen auslöst, habe ich nicht erwartet.

»Sollen wir uns noch einen heißen Kakao holen, bevor wir heimgehen?«, unterbricht mein Dad meine Gedanken. Ich nicke. Mechanisch.

Heute wird noch nichts in den Hütten verkauft, aber es gibt Kakao für alle umsonst.

Diese Stadt erfüllt alle Hallmark-Film-Klischees und wenn man nicht aufpasst, wird man in ihrer Wärme eingewickelt und hat keine Chance, daraus wieder zu entkommen. So sind schon einige Auswärtige in Silver Pines hängen geblieben.

Ich bin geflohen.

Und wieder hier.

Ob es mir noch einmal gelingen wird, zu gehen?

Ich weiß es nicht. Nur, dass der zweite Dezember vorbei ist, und ich habe keine Ahnung, wie ich die nächsten 23 Tage überstehen soll.

Bis morgen meine Rockeronies

eure

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