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Adventskalender Türchen 4

Lila

04.12.2025

Die Wintersonne scheint mir ins Gesicht und ich vergrabe es in meinem Kissen. Am liebsten würde ich einfach gar nicht aufstehen. Das Problem ist nur: In Silver Pines gehen die Uhren nicht nur anders, sondern auch viel gemütlicher.

Außerdem bin ich viel zu früh wach. Viel zu früh.

Da kickt wohl noch meine Routine aus New York rein. Frühes Aufstehen gehört dort zu meinem Alltag. Schnelles, gesundes Frühstück, dann raus auf die Straßen der wuseligen Stadt, Training …

Ich schließe die Augen. Daran ist mit meinem Knie nicht zu denken, und wer weiß, was wird.

Aber es ist nicht das einzige, was mir durch den Kopf geht.

Vielleicht ist es die Ausstellung, an der meine Mom arbeitet.

Vielleicht, dass heute das Festival eröffnet, was bedeutet, dass ich Tucker wiedersehe.

Es ist Tucker.

Es muss Tucker sein.

Einen Moment gönne ich mir noch Ruhe. Eingerollt unter der schweren Winterdecke in meinem alten Kinderzimmer. Noch die Poster an der Wand von Schwanensee, Musicals und allem, was mir damals so wichtig war. Und eigentlich auch immer noch ist. Es ging immer nur ums Tanzen. Die große Bühne.

Die Sonne lässt den Staub in meinem Zimmer tanzen. Immerhin etwas ist in Bewegung.

Ich bin nicht die Einzige, die schon wach ist. Natürlich nicht.

Das Haus ist nicht besonders isoliert und ich kann meine Eltern unten in der Galerie durch den Holzboden hören.

Sie verschieben Leinwände. Mein Dad hustet. Sie lachen miteinander, unterhalten sich. »Nein, Jasper, das Blau muss hier rüber. Nicht den Rahmen so anfassen.« Manchmal klingt es, als bauen sie neue Rahmen zusammen und meine Mom singt bei einem Lied mit, während das metallische Klick-Klack nach oben dringt, wenn sie ihre Staffeleiklammern sortiert.

Ich schließe die Augen.

Alles klingt noch so wie in meiner Kindheit. Ich habe es geliebt, an den Winterwochenenden im Bett zu liegen und den Geräuschen aus der Werkstatt und der Galerie zu lauschen. Irgendwann kam meine Mom immer rein, weil sie irgendein süßes Gebäck für mich zum Frühstück hatte.

Zehn Jahre habe ich das nicht mehr erlebt.

Kurz lasse ich den Gedanken zu, dass ich eigentlich nicht einmal vorgehabt hatte, es noch einmal so zu erleben.

Das Schicksal hatte eine andere Vorstellung und ich bin mir nicht mehr sicher, ob ich es nicht gut finde. Wäre da nur nicht Tucker … oder eben doch?

»Ugh.« Als ich Tuckers blaue Augen vor mir sehe, werfe ich die Bettdecke von mir und setze mich an den Rand des Bettes. Mein Knie zickt. Ich berühre es, bewege es vorsichtig. Es ist steif, aber nicht mehr so schmerzhaft wie gestern. Hoffnung glimmt in mir auf.

Nicht darüber nachdenken, nicht darüber nachdenken. Am besten, ich beschäftige mich mit etwas anderem.

Heute eröffnet das Winterlights Festival und damit wird die festliche Zeit in Silver Pines eingeläutet.

 

 

Wenig später habe ich geduscht und stehe mit einem Kaffee in der Hand in der Küche meiner Eltern. Es ist warm, sie haben den Holzofen angefeuert, und der Duft mischt sich mit dem Geruch nach Farben und Terpentin aus der Galerie.

Ich schließe die Augen und atme tief ein. Es riecht nach zu Hause und das fühlt sich gerade erstaunlich gut an.

Die Tür zur Galerie ist offen und ich kann sie lachen hören, wenn sie beide merken, dass ihre Diskussion über die Winterausstellung zu hitzig wird. Das habe ich schon immer an meinen Eltern bewundert. Sie können miteinander diskutieren, ohne dass sie sich wirklich streiten, und am Ende lachen sie darüber und finden eine Lösung. Vielleicht bin ich deswegen so schlecht in Beziehungen, weil ich so ein extremes Positivbeispiel erlebt habe.

»Ach, Zuckerfee, du bist ja schon wach«, begrüßt mich mein Vater, als er mit einem Passepartout in die Küche kommt. Er gibt mir einen flüchtigen Kuss, ehe er in Richtung Abstellraum verschwand – oder wohin auch immer. Bei meinem Dad wusste man nie so genau. Er hatte ständig neue Ideen im Kopf und fing 1000 Sachen gleichzeitig an.

Ich wandere mit meinem Kaffee ins Atelier. Meine Mom steht hinter einer Staffelei, ich kann nur ihre Beine sehen.

»Hi Mom«, begrüße ich sie, und sie lächelt, als sie hinter der Staffelei zu mir schaut.

»Oh, guten Morgen, Lila.«

Mein Dad kommt zurück, in der Hand einen Teller mit einem French Toast. Ich frage mich, wann er den so schnell gemacht hat. Er drückt ihn mir in die Hand, als wäre ich zwölf.

»Du siehst blass aus«, meint Mom und mustert mich.

»Sie sieht nicht blass aus, Viv«, widerspricht mein Vater.

»Du siehst das nur nicht, weil du kein Künstlerauge hast, Jasper.« Sie sieht mich an. »Iss deinen Toast, Lila. Du musst uns heute helfen, damit die große Winterwand fertig wird.«

»Welche Winterwand, Mom?« Ich traue mich fast gar nicht zu fragen.

»Na, die mit den Schneelandschaften«, sagt meine Mom, als hätten wir seit Wochen darüber gesprochen. Ich habe keine Ahnung, aber ich werde es wohl gleich erfahren und sage einfach nichts mehr. »Und bei meinem abstrakten Polarlicht, Lila. Ach, und mit der neuen Leinwand, die dein Dad gestern beinahe ruiniert hat.«

»Habe ich nicht …«, beginnt Dad zu protestieren, aber er bricht ab. Würde ich auch, denn der Blick von Mom duldet keinen Widerspruch.

Schmunzelnd beiße ich in meinen French Toast.

Der erste Bissen zergeht in meinem Mund. Zimt. Vanille. Einfach perfekt. Nirgendwo bekomme ich ihn so wie bei meinem Dad.

Ich blinzele die Tränen weg und hoffe, meine Eltern bemerken es nicht.

 

Keine Ahnung, wie wir es geschafft haben, aber noch vor dem Lunch hat sich die Galerie in ein einziges Chaos verwandelt. Oder sagen wir mal so: Wenn es noch chaotischer möglich war, dann haben wir das geschafft.

Aber es ist warm und gemütlich hier in unserer kleinen Künstlerbubble.

Überall liegen Kisten, Pinsel und Holzrahmen.

Meine Mom hat zwischendrin noch angefangen, die Weihnachtsdekoration vom Haus auf die Galerie und das Atelier auszubreiten. Sie hat eine nagelneue Lichterkette gekauft, die unbedingt im Schaufenster ausgehängt werden muss. Denn wenn ich etwas gelernt habe, dann, dass Weihnachten funkeln muss. Immer.

Dad hat seine alten Platten rausgekramt und wir hören Weihnachtsmusik. Kann es schöner sein?

»Lila, kannst du mir mal die goldenen Clips geben für die Schneeszene?« Mom steht auf der Leiter.

»Welche?«

»Die Großen, die funkeln.«

Natürlich. Das hätte ich mir denken können.

Als ich nach den Clips suche, muss ich mich mühsam bücken.

»Geht es mit deinem Knie?« Moms Stimme ist voller Mitgefühl.

Ich nicke nur und gebe ein uneindeutiges Mmh von mir. Sie wissen, dass ich mich verletzt habe, aber mehr will ich dazu nicht sagen.

Als ich alle Clips zusammen habe, reiche ich sie ihr.

Höre Dad in der Werkstatt fluchen. Als ich allerdings gerade zu ihm gehen will, klopft es an der Tür des Ateliers. Wir haben heute geschlossen und den kleinen Rollo an der Tür nach unten gezogen, sodass ich nicht sehen kann, wer es ist.

»Ah, das wird der Lieferant sein, der mir noch die letzten fehlenden Teile bringt«, meint Mom und sieht mich fragend an. »Kannst du aufmachen?«

»Klar.«

Ich gehe zur Tür und öffne sie.

Starre.

Denn es ist kein Lieferant, nicht irgendwer. Sondern Tucker.

Die Mütze tief in die Stirn gezogen, die Locken lugen darunter hervor. Sein Bart glitzert, weil es wieder leicht angefangen hat zu schneien. Er trägt seine dicke Jacke aus der Schreinerei und Holzstaub ist darauf zu erkennen.

Seine blauen Augen fixieren mich und ich schlucke.

»Hi«, bringe ich gerade so heraus.

Er nickt und deutet auf den Rahmen, den er neben sich abgestellt hat. »Das ist der große Rahmen für die Winterwand deiner Mom.«

Mein Vater tritt neben mich. »Ach Tucker, perfektes Timing. Komm rein.«

Er macht ihm Platz, verschwindet wieder in seine Werkstatt und mechanisch trete ich ebenfalls einen Schritt zurück. Ich habe es nicht einmal geschafft, ihn hereinzubitten. Hitze schießt mir in die Wangen.

Kalte Luft folgt Tucker, als er in die Galerie eintritt. Dad hilft ihm mit dem Rahmen, während ich mich zwingen muss, nicht die Augen zu schließen, um Tuckers Duft einzuatmen.

Er riecht wie damals. Nach Holz. Wärme. Geborgenheit und seinem herben Duft mit Moschus und einer Note, die ebenfalls an Tannenwälder erinnert, den er schon damals hatte.

Sein Blick streift mich und als er an meinem Knie hängen bleibt, stockt er.

Ohne dass ich es verhindern kann, überkreuze ich meine Beine und verstecke es.

»Ich kann dir den Rahmen abnehmen«, murmele ich, um das Thema zu wechseln und ihn abzulenken.

»Kein Problem«, sagt er. Seine Stimme ist ruhig, zu ruhig, und das macht mich nervös.

Alles an diesem Mann macht mich nervös, dabei ist es schon zehn Jahre her. Aber Tucker ist wie eine Melodie, der Text eines Songs, den man auch nach Jahrzehnten nicht vergessen hat, egal, wie lange man das Lied nicht mehr gehört hat.

Mom steht neben mir, ohne dass ich sie bemerkt habe.

»Sehen wir uns heute Abend, Tucker?« Ich zucke zusammen, auch weil sie es so übertrieben unschuldig sagt. »Lass uns einen Punsch zusammen trinken«, fügt sie noch hinzu, und ich atme flacher, verschlucke mich.

Tucker räuspert sich.

»Ähm …«

»Vielleicht«, bringe ich schnell heraus, weil ich ihn aus dieser Situation erlösen will.

Unsere Blicke treffen sich.

Vielleicht.

Ich sehe es in seinen Augen. Ein Vielleicht ist manchmal mehr als ein Ja.

 

Tuckers Duft hängt im Atelier wie ein süßes Versprechen, als er schon lange wieder weg ist. Ich kann mich kaum konzentrieren. Mom verbreitet aufgeregte Chaosenergie und Dad, der geduldig seine Kommentare abgibt. Meine Gedanken sind woanders.

Am Nachmittag sitzen Dad und ich an der Küchentheke und trinken Kaffee, während Mom die letzten Handgriffe an ihren Bildern macht.

»Und, Zuckerfee? Wie geht es dir? So mit allem? Hier, in Silver Pines?« Er sieht mich nicht an, rührt in seinem Kaffee. Vorsicht liegt in seiner Stimme. Mein gequältes Lächeln kann er nicht sehen, aber ich war immer ehrlich zu meinen Eltern – weitestgehend. Manchmal habe ich auch früher Details weggelassen. So wie heute auch.

»Es ist schön, wieder hier zu sein. Und irgendwie auch nicht. Ich kann das gar nicht beschreiben.«

Dad hebt den Kopf und sieht mich an. Drückt meine Hand und zieht mich in eine kleine Umarmung. Warm und sicher, so wie es schon als kleines Mädchen immer für mich war.

»Tut mir leid, Zuckerfee, dass du jetzt nicht auf den Bühnen New Yorks stehen kannst, wie du es sonst immer getan hast. Gerade jetzt, zu Weihnachten.«

Ich beiße mir auf die Lippen. Um die Weihnachtszeit ist New York noch mal ein besonderer Anziehungspunkt für Touristen und die Theater sind voll. Es fehlt mir und das Ziehen in meinem Herzen ist schmerzhaft. Die Sehnsucht nach dem Geruch der Bühne, dem Backstage. Die Aufregung, die in der Luft liegt, die sich ins Unermessliche steigert, wenn das Publikum in den Saal kommt und die Aufführung nicht mehr lange auf sich warten lässt.

»Es ist, wie es ist. Schauen wir mal, wann ich sie wieder betreten kann.«

Dabei ist die wirkliche Frage nicht wann, sondern ob.

 

»Hast du alles, Lila?« Ich stehe schon an der Tür. Mom und Dad wuseln noch herum. Wir wollen zum Winterfestival und seiner feierlichen Eröffnung, auch wenn ich glaube, dass wir das Erleuchten des Baumes schon verpasst haben. Morgen wird die Winterausstellung in der Galerie eröffnet und das Aufräumen hat länger gedauert, als wir dachten. »Hier, nimm noch den Schal. Es ist wirklich kalt draußen.«

Ich wickele ihn mir um den Hals, atme das blumige Parfum meiner Mom ein und öffne die Tür. Dad ist inzwischen auch fertig. Wir können los.

Die Luft ist kalt, beißt auf der Haut, die nicht geschützt ist. Es schneit nicht, aber der Himmel ist wolkenverhangen.

Auf der Straße sind nur noch wenige Leute unterwegs. Alle sind schon auf dem Festplatz. Silver Pines hat sich herausgeputzt. Die Lichterketten und Deko an den Häusern leuchten in warmem Licht. Wie ein Wegweiser in die Mitte des Ortes, wo heute alle Hütten im Lichterglanz strahlen. Der riesige Weihnachtsbaum funkelt, als wäre er aus einem Filmset.

»Ach, wir haben es wirklich verpasst«, meint Mom und hakt sich bei Dad unter.

Der Platz ist voll mit Menschen. Sie lachen, essen etwas, trinken etwas oder flanieren an den Buden vorbei, um sich die Auslagen anzusehen.

Es riecht nach Zucker und Weihnachten.

So wie es sein soll.

Kinder quetschen sich zwischen den Beinen der Erwachsenen hindurch, und als wir uns einmal fast ganz über den Platz gearbeitet haben – wir sind nach jedem zweiten Schritt stehen geblieben, weil meine Eltern jemanden getroffen haben. Einige kannte ich noch, andere nicht. Silver Pines hat neue Gesichter hinzugewonnen, seit ich weggegangen bin.

Und dann sehe ich ihn.

Tucker.

Ich sehe ihn, bevor er mich bemerkt, und so kann ich ihn einfach ansehen – ohne schlechtes Gewissen –, wie er in seinem Stand steht, der voll ist mit wunderschönen, filigranen Holzarbeiten. Ich wusste gar nicht, wie begabt er mit Holz ist. Aber es passt zu ihm. Tucker hat schon immer viel Geduld gehabt.

Von meinem Platz aus erkenne ich Holzanhänger, die man an den Weihnachtsbaum hängen kann. Herzen. Schneemänner mit feinen, eingebrannten Gesichtern. Glocken. Daneben Intarsienarbeiten: Winterlandschaften, Weihnachtsmotive. Und dann stolpert mein Herz für einen Moment, als ich die Schneeflocken entdecke.

Er hat mir eine gemacht. Es waren seine ersten Arbeiten und sie waren bereits wunderschön. Die Schneeflocke muss ich irgendwo noch haben. Begraben in den anderen Erinnerungen an Tucker.

Gerade beugt er sich über den Stand und zeigt einem kleinen Jungen eine Holzlaterne mit Weihnachtsmann-Motiv.

Als er wieder aufsieht, treffen sich unsere Blicke.

Es fühlt sich an, als wären wir allein, als gäbe es nur uns in diesem Moment.

Dann ruft jemand seinen Namen und ich höre, wie meine Mom nach mir ruft.

Der Moment endet, wie jeder Winter in Silver Pines einmal sein Ende findet.

Noch 21 Tage, bis ich eine Entscheidung treffen muss.

Meine Lieben, das war Tag 4 in Silver Pines. Ich hoffe, es hat euch ein bisschen gefallen. Wir sehen uns morgen.

Es geht in den Baumarkt …

Rockt on,

eure

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