Adventskalender Türchen 5
Tucker
05.12.2025
Mein Rücken teilt mir mit einem leichten Stechen mit, dass ich vielleicht ein wenig langsamer machen sollte. Doch der Dezember sieht das anders. Zwar stehen die Hütten und das Winterlights-Festival ist eröffnet, aber trotzdem ist es viel Stress. Tagsüber die Arbeit in der Schreinerei, abends bin ich an meinem Stand und verkaufe die Ornamente, Insignien, Laternen und alles, was ich über das Jahr extra für das Festival in meiner Werkstatt herstelle.
Der erste Tag des Festivals bedeutet aber auch, dass ich noch viel Zeit dort verbringe und nur wenig in meiner Werkstatt tun kann.
Lichterketten, die bei der Probe noch gingen, müssen heute noch einmal überprüft werden, weil sie den ersten Abend nicht überlebt haben.
An einigen Hütten hat sich die Deko verabschiedet, weil es heute Nacht wieder geschneit hat.
Außerdem frage ich mich wie jedes Jahr, wer auf die verdammte Idee gekommen ist, die Bühne mit Tannenzweigen an den Seiten zu dekorieren – ein Albtraum, denn die Teile machen immer, was sie wollen, und wieder festmachen darf ich sie.
Auch die Jungs sind wieder da und helfen mit. Ich arbeite allein, denn das mache ich sowieso am liebsten. Schweigend. Während Lila in meinem Kopf herumspukt. Natürlich. Sie ist nicht laut, sondern leise, aber immer da. Wie ein Ohrwurm, den man nicht mehr loswird.
Wie sie mich gestern angesehen hat.
Mit dem Schal ihrer Mom – er kann nur von Vivian gewesen sein, denn er war laut und bunt. Anders als Lila. Sie ist fein … auch wenn sie nie so zurückhaltend war wie jetzt.
Ihr vorsichtiges Lächeln. Als hätte sie Angst davor, es mir zu zeigen.
Ich ziehe eine Schraube fester, als nötig und das Holz splittert.
»Fuck.«
»Tucker?« Ich zucke zusammen, das Bit von meinem Akkuschrauber löst sich und hüpft in irgendeine Ritze. Na wunderbar. Es war das Letzte, was ich in der Größe dabei hatte.
»Was?«, knurre ich. Hinter mir steht einer der Jungs, Tom, und wedelt mit einer Liste.
»Wir brauchen mehr Kabelbinder.« Er ist von meiner Laune so unbeeindruckt wie das Wetter. »Außerdem sind die Schrauben aus. Die Dünnen.«
Natürlich.
Warum auch nicht? Kabelbinder sind auf dem Festival so was wie der heilige Gral. Oder der Ring von Mordor. Oder wie heißt das Ding noch mal, was dieser Troll mit den Haaren auf den Füßen in irgendwas werfen muss? Filme sind nicht meins.
»Ich fahre rüber ins Pine Depot. Brauche sowieso ein neues Bit.« Ich halte ihm den Akkuschrauber entgegen. »Könnt ihr die Hütte hier im Blick behalten? Damit sie nicht zusammenbricht, bis ich wieder da bin?«
»Klar, aber was soll schon passieren?«
Die Hütte ächzt genau in dem Moment, wo er seinen Satz beendet hat.
Ich seufze. »Ich bin gleich zurück. Und in der Zeit rührt ihr gar nichts an der 18 an, klar?«
Er grinst und hebt die Hand wie ein Schuljunge.
Auf dem Weg zu meinem Truck drehe ich mich noch dreimal um. Eigentlich kann ich mich auf die Kerle verlassen, aber … den Stand noch mal komplett neu aufzubauen, möchte ich mir schenken. Vor allem wäre dann alles hin, was an Ware bereits vorhanden ist.
Kaum betrete ich den Baumarkt, muss ich meine Mütze absetzen und meine Jacke öffnen. Es ist überheizt hier drin und viel zu warm. Es riecht nach Holz, Farbe, Schweiß und etwas, das mich immer an Heimwerkerfrust erinnert.
Da ich keine Lust habe, für meine Kleinteile einen Wagen zu nehmen, schnappe ich mir am Eingang einen Karton und laufe durch die Gänge. Ich weiß genau, was ich wo holen muss. Das Pine Depot ist mein zweites Zuhause.
Die Schrauben liegen in Gang 2. Da finde ich in der Nähe auch das neue Bit, und ich wette, wenn ich gleich wieder auf dem Platz bin, rollt mir das alte vor die Füße.
Seufzend wechsele ich die Gänge, hole zuerst die Kabelbinder und nehme lieber gleich mal drei Päckchen mehr. Dann noch Haken. Tom hat sie mit auf die Liste geschrieben – er wird wissen, wofür.
Was will er noch?
»Das Gekrakel kann ja kein Mensch lesen«, murmele ich und mache mich auf den Weg in die Beleuchtungsabteilung, als ich endlich dahintergekommen bin, dass er Leuchtmittel braucht.
Aus dem Augenwinkel nehme ich eine Bewegung im Gang mit den Farben wahr.
Oder besser gesagt jemanden, den ich hier nicht erwartet und gerade mal aus meinem Kopf verbannt hatte.
Braune Haare, leicht zerzaust, weil sie wohl wie ich eine Mütze aufgehabt hat, als sie den Baumarkt betreten hat.
Ein Mantel, der an den Schultern eindeutig zu groß wirkt.
In den Händen eine Farbdose, die sie so akribisch hin und her dreht, als würde sie die Antworten auf all das Elend in der Welt kennen.
Lila.
Und mein Herz? Das macht wieder diese verdammten Sprünge. Dieses Stolpern, das es nur macht, wenn es sich wirklich über etwas freut.
Ich sollte weitergehen. Meine Liste abarbeiten und schnell zurückfahren, die Jungs warten. Das wäre normal.
Stattdessen stehe ich hier mitten im Gang wie ein Idiot.
Ohne aufzusehen, sagt Lila plötzlich: »Irgendwie sehen die drei Blautöne doch alle identisch aus, oder?«
Ich räuspere mich, ehe ich es verhindern kann. »Kommt drauf an. Welchen willst du denn?«
Sie fährt herum und hätte fast die Farbe fallen lassen. Ich fange sie gerade noch auf und gebe sie ihr zurück. Als sie mich erkennt, hellen sich ihre Augen auf. Nur ein bisschen, aber genug, dass ich es bemerke.
»Tucker.« Sie lächelt unsicher.
»Lila.« Ich stelle meine Kiste ab und schiebe die Hände in meine Jackentasche. »Suchst du Farbe für deine Mom?«
»Ja, die suche ich tatsächlich. Sie will, dass die Winterwand noch mehr Tiefe bekommt und mehr Winterglanz. Aber die Krönung war, dass sie mir gesagt hat, ich soll das Blau mitbringen, das nach Hoffnung aussieht.« Sie verzieht den Mund, zuckt mit den Schultern und sieht mich skeptisch an. »Und jetzt stehe ich hier seit einer Ewigkeit, und langsam sehen die alle gleich aus.«
Ich lache. Weil das so typisch Vivian ist und weil Lila so … egal.
Mein Lachen ist echt und es tut gut. Es ist warm und irgendwie gefährlich. Als ich mich beruhigt habe, deute ich auf eine Dose mit einem Blauton.
»Wenn es Hoffnung ausstrahlen soll, dann musst du das hier nehmen.«
Lila wirft mir nach dem Lachflash einen Blick zu, der sagt, „Du verarschst mich doch“.
»Das ist … arktisches Licht«, liest sie vor und beugt sich näher an die Farbdose.
»Genau. Und arktisches Licht klingt hoffnungsvoll«, erwidere ich und meine es auch so.
»Das ergibt doch gar keinen Sinn.« Lila schnaubt.
»Aber das ist es doch, denn das tut Hoffnung nun mal selten.«
Sie sieht mich an. Nein, eigentlich starrt sie mich an. Viel zu lange halten wir den Blickkontakt. Viel zu viel ist darin zu lesen. Bei ihr und bei mir sicher auch.
Also räuspere ich mich, sehe weg und greife schnell nach der Farbdose, die sie in der Hand hatte, als ich zu ihr kam.
»Das Blau hier wirkt wie Schneefall kurz bevor die Sonne aufgeht.«
Sie neigt den Kopf und betrachtet die abgebildete Farbe auf der Dose.
»Das ergibt immerhin Sinn.«
»Danke.« Ich deute eine Verbeugung an und weiß nicht mal, wieso ich so albern bin.
Schweigen senkt sich über uns, als wir weiter vor dem Farbregal stehen und die blauen Farbtöne studieren. Ich weiß nicht, ob ich noch mal in Lachen ausbrechen sollte oder lieber aus dem Laden renne, bevor das, was ich fühle, wieder zu viel wird.
»Viel los?«, fragt sie mich plötzlich, und ich brauche einen Moment, um zu reagieren.
»Ja«, sage ich schließlich. »Wie immer im Dezember. Tagsüber die Arbeit, abends das Festival. Am Anfang und um die Feiertage herum ist am meisten los.« Ich deute auf die Kiste. »Und dieses Jahr ist der Wurm drin. Ich bin schon wieder auf dem Platz und nicht in der Werkstatt.« Keine Ahnung, wieso ich ihr das erzähle. »Gut, dass ich jeden Tag prüfe, ob alles hält.«
»Tut es«, meint sie, und ich runzele die Stirn. »Weil du alles hältst.«
Das erwischt mich eiskalt. Ich blinzle. Schlucke. Das hat sie nicht … doch. Sie hat es gesagt. Eindeutig.
»Tue ich nicht. Nur das, was sonst zusammenbricht.«
Unsere Blicke verhaken sich. Es ist unfair, weil sie keine Ahnung hat, wie sehr mich ihre Aussage gerade trifft.
»Ich weiß.« Ihre Worte sind leise und ich muss tief einatmen. Sehr tief. Wenn ich nicht das Thema wechsle, dann ..
»Brauchst du noch mehr Farbe?«, frage ich abrupt.
»Ja, Gold. Aber es muss warm sein und auf keinen Fall kitschig.« Beim letzten Teil des Satzes ahmt sie den Tonfall ihrer Mom nach. Trifft ihn so perfekt, dass ich grinse.
»Keine Sorge, dafür habe ich ein Auge.«
Sie hebt eine Augenbraue und es ist wieder leichter zwischen uns.
»Du? Für Gold? Ausgerechnet?«
»Klar.« Ich straffe meine Schultern. »Immerhin bin ich Schreiner. Das steht für Geschmack und ein gutes Auge für Stil.«
Sie lächelt. Dieses Mal schon viel breiter als die Male zuvor. »Das hast du damals schon immer behauptet.«
Damals. Kurz sticht es. Aber ich will mich davon nicht beeinflussen lassen.
»Stimmt. Aber du musst zugeben, ich hatte immer recht.«
Jetzt lacht sie. Leise zwar, aber echt. Das kann ich hören. Sie klingt wie die Lila, die sie früher war.
Also helfe ich ihr, ein warmes Gold zu finden, und sie nimmt das, was ich aussuche.
Habe ich doch gesagt. Ich habe Geschmack.
Gemeinsam holen wir noch die Leuchtmittel, die Tom auf meine Liste geschrieben hat, und dann gehen wir an die Kasse. Nebeneinander. Sprechen wenig dabei, schauen uns umso öfter einfach nur an.
Es ist okay.
Als wir gezahlt haben, gehen wir zusammen zum Ausgang und ihr Auto steht auf der anderen Seite des Parkplatzes, als meines. Lila bleibt kurz hinter dem Ausgang stehen.
»Bist du heute Abend wieder auf dem Festival?«
Mein Herz stolpert. Schon wieder.
»Ich bin am Stand. Bin jeden Abend da. Sind ja meine Sachen, da kann ich niemanden bitten …«
Sie presst die Lippen zusammen, nickt. Zögert. »Vielleicht komme ich vorbei.«
»Vielleicht ist okay, weißt du?«
Ihre Wangen färben sich dunkel und es ist nicht die Kälte. Eine Windböe erfasst uns und Lila zieht ihre Kapuze über den Kopf. Dann nickt sie mir zu und wendet sich.
»Lila?« Keine Ahnung, wieso ich sie aufhalte.
»Ja?« Sie dreht sich noch einmal zu mir. Hält ihre Kapuze fest, weil der Wind stärker geworden ist.
»Mach langsam.« Unwillkürlich sehe ich zu ihrem Knie und sie beißt sich wieder auf die Lippen. »Mit allem«, füge ich noch hinzu.
Kurz sieht sie aus, als hätte ich sie erschrocken. Dann wird ihr Ausdruck weicher.
»Du auch.«
Ich schlucke, weil sie mich noch immer lesen kann wie ein offenes Buch.
Sie lächelt. Weil sie es auch merkt. Und dann geht sie.
Und ich? Ich stehe hier wie ein Mann, der gerade das Chaos seines Lebens in einem Wintermantel davonlaufen sieht.
Ich fahre zurück zum Festival, so in Gedanken, dass ich nicht mal mehr weiß, wie ich hingekommen bin.
Sind manche Begegnungen Zufall? Oder Schicksal?
Lilas Eltern leben in Silver Pines. Es war klar, dass sie irgendwann zurückkommen musste. Das hat nichts mit Schicksal oder so zu tun. Es ist der Lauf der Dinge, und doch habe ich das Gefühl, dass Lila Monroe nie ganz weg war.
Die nächsten 20 Tage werden zeigen, ob ich damit recht hatte.
Bis morgen in Silver Pines, meine Rockeronies
eure