Adventskalender Türchen 6
Lila
06.12.2025
Die Tage in Silver Pines vergehen langsamer als in New York. Zumindest fühlt es sich so an, und heute bin ich dankbar dafür, weil es mir mehr Zeit gibt. Vermeintlich.
Den ganzen Tag bin ich aufgekratzt und noch früher aufgewacht als sowieso schon. Alles in mir kribbelt. Es ist nicht unangenehm, und trotzdem beschäftigt es mich mehr, als es sollte.
Vielleicht war es meine Begegnung mit Tucker gestern. Wie er den Goldton für mich rausgesucht hat und wie leicht es zwischendurch schien, mit ihm zu reden.
Oder es liegt an der Eröffnung der Winterausstellung heute Abend in der Galerie?
Während ich meine Haferflocken esse, kreisen meine Gedanken immer wieder darum, wie souverän Tucker die Farben ausgesucht hat.
Ich meine, arktisches Licht als Hoffnung? Das Warmgold?
Er hat die Farben mit Worten beschrieben, die mir nicht mal in den Sinn gekommen wären, als würde er genau wissen, wie etwas aussieht, das man nicht anfassen kann.
»Die Winterwand ist so perfekt geworden, Lila!« Meine Mom rennt zwischen den Wohnräumen und der Galerie hin und her, immer eine Wolke von Glitzerstaub und dem Geruch von Farben um sie herum. »Dieses Blau, es ist so …«
»Hoffnungsvoll?«, frage ich trocken und denke, sie muss doch merken, wie ich es sage. Doch sie bleibt stehen und sieht mich intensiv an.
»Ja, tatsächlich! Wie bist du darauf gekommen?«
»Intuition.«
Auf keinen Fall werde ich ihr oder meinem Dad von meiner Begegnung mit Tucker im Baumarkt erzählen. Dass er mir so nah war wie seit Jahren nicht mehr, ich seinen Atem auf meiner Haut spüren konnte und meine Nervenenden verrücktgespielt haben. Sie lieben Tucker und es würde ihnen vielleicht wieder nur eine Hoffnung geben, die ich nicht teile. Wieder geht mir durch den Kopf, wie selbstverständlich er wusste, welches Blau für Hoffnung steht und welches für Traurigkeit.
Mein Herz zieht sich zusammen. Tucker war schon immer ein besonderer Mensch. Habe ich das einfach nicht sehen können?
Draußen ist es heute neblig und bitterkalt. Es schneit leicht, die Flocken sind kaum zu sehen. Wirken wie kleine Glassplitter, die von einem scharfen Wind durch die Luft gewirbelt werden. Rausgehen steht nicht auf meiner Wunschliste, und so helfe ich meinen Eltern, die Galerie für die Eröffnung der Winterausstellung am Abend auf Vordermann zu bringen. Ich ordne kleinere Bilder neu an.
Meine Mom hält jedes Bild im falschen Licht, mein Dad hängt etwas auf und wieder ab, nur um es wieder aufzuhängen. Ich schmunzele über ihre Aufregung und bin einfach nur froh, etwas zu tun zu haben.
Laufen ist heute kein Problem und das gibt mir ein gutes Gefühl. Es ist nicht perfekt und ich merke die Instabilität, aber es hätte heute auch schlechter sein können. Ich nehme es als gutes Zeichen.
»Gehst du nach der Eröffnung noch mal zum Festival?«, fragt mein Dad, als wir eines der letzten Bilder aufgehängt haben.
Ich greife nach einigen Clips und spiele damit zwischen meinen Fingern.
»Hier ist sicherlich jede Menge zu tun …«
»Wir haben einen Catering, Zuckerfee. Die Mädels kümmern sich um alles.«
Ich zucke mit den Schultern. »Ich weiß nicht.«
»Es würde dir sicher guttun, als immer nur hier in der Galerie zu sein«, sagt er sanft. »Vielleicht triffst du auch ein paar neue Leute?«
Neue Leute.
Als ob ich das wollte. Oder das jemals geklappt hätte, so wenig wie ich immer dazugehört habe – außer zu Tucker.
»Ja, vielleicht. Mal sehen, wie es mit der Eröffnung läuft.«
»Die wird gut laufen, glaub mir«, flüstert er mir zu, als wir Mom dabei beobachten, wie sie ein Bild zum vierten Mal umhängt. »Das tut es jedes Jahr, ganz egal, was deine Mom auch vorher denkt. Und ich weiß nicht, ob es dir nicht schnell zu langweilig werden wird.«
Ich beiße mir auf die Lippen. Ich habe die Galerie immer geliebt, aber ich bin einfach eine Tänzerin und keine Malerin oder Fotografin. Mir fehlt das Auge dafür und ich habe oft die Kunst nicht verstanden. Als ich noch zu Hause gewohnt habe, haben die Besucher der Galerie immer gedacht, dass ich mich auskenne, wenn sie hereinkamen, und wollten sich mit mir über die Kunstwerke unterhalten. Sagen wir mal so: schwierig.
»Zieh dich warm an, falls du gehen solltest.«
Ich lache, denn selbst wenn ich gehen sollte, es sind noch Stunden bis dahin. Aber das ist eben Dad. Konsequent besorgt.
Die Eröffnung der Ausstellung läuft wie vorhergesagt. Ich will helfen, greife nach einem Tablett mit Sektgläsern und direkt stürzt eines um. Claire nimmt es mir aus der Hand, mit einem Lächeln, aber sie wirkt gestresst. Ich stehe im Weg. Die Gäste sind begeistert, Mom verkauft Bilder, Dad fachsimpelt über Fotografie. Gespräche erfüllen den Raum, das Klingen von Gläsern, und es riecht nach kleinen Köstlichkeiten, die auch noch so gut schmecken, wie sie riechen.
Ich suche den Blickkontakt mit meinem Dad und deute mit einem Nicken an, dass ich kurz verschwinde. Ein kleiner Ausflug zum Festival wird mir guttun. Es ist sehr warm in der Galerie und die frische Luft klingt verlockend.
Er lächelt und nickt zurück.
Ich husche in die Wohnräume, achte darauf, die Türen zu schließen – es wäre nicht das erste Mal, dass sich die Gäste einer Ausstellung in unser Haus verirren. Hier hängen ebenso viele Bilder wie in der Galerie und das Chaos könnte man als Kunst interpretieren, wenn man wollte.
Ich greife meinen dicken Mantel und Moms Schal, den ich mir um den Hals schlinge. Wenige Minuten später stehe ich vor der Galerie und sehe durch das Schaufenster hinein. Die Luft ist kalt und bei jedem Atemzug schweben kleine Wolken vor meinem Gesicht. Es schneit wieder stärker und wenige Menschen sind zu Fuß unterwegs. Die Galerie strahlt bis nach draußen voller Wärme, und wenn man hier draußen steht, möchte man gern Teil des Ganzen sein.
Ich lächle ein letztes Mal mit Blick auf diese Szene, schiebe meine Hände in die Manteltaschen und laufe in Richtung des Festivals. Silver Pines leuchtet. Selbst wenn es stark schneit, kann man es nicht übersehen. Es ist heimelig und wunderschön. Stillt eine Sehnsucht in meinem Herzen, von der ich nicht einmal wusste, dass ich sie noch habe.
Je näher ich dem Platz des Festivals komme, desto voller wird es. Kinder laufen lachend an mir vorbei, ihre Eltern rufen sie dazu auf, zu warten. Aufregung liegt in der Luft. Es duftet nach Zimt, Cider und warmem Kakao, den man auch dringend braucht, wenn man sich länger draußen aufhält. Schneeflocken glitzern auf den Mützen und Mänteln. Der Weihnachtsbaum schimmert, die Hütten erstrahlen in Lichterketten.
Es ist weniger voll als an den Wochenenden und ich habe schnell einen Funnel Cake, der so dick mit Puderzucker bestäubt ist, dass mir das Wasser im Mund zusammenläuft.
Wie ein Magnet werde ich von Tuckers Hütte angezogen, und als ich ein Stück weitergehe, kann ich sie sehen. Ganz am Rand des Platzes, als wollte er nicht die ganze Aufmerksamkeit – dabei verdankt Silver Pines es ihm, dass die Hütten überhaupt hier stehen. Um seinen Stand hat sich eine Traube Menschen versammelt, sodass ich beinahe annehme, dass er gar nicht da sein könnte. Die Enttäuschung, die mich erfasst, irritiert mich. Noch mehr das Herzstolpern, als ich ihn schließlich doch entdecke.
An seinem Stand.
Zwischen all den geschnitzten Holzfiguren, den Ornamenten und kunstvollen Laternen. Immer wenn ich es sehe, stelle ich fest, wie liebevoll er das alles macht. Mit dem Herzen. So wie alles, was Tucker anfängt.
Hitze steigt mir in die Wangen und ich beiße schnell in meinen Funnel Cake, während ich näher an den Stand laufe.
Tucker ist in ein Gespräch vertieft. Zeigt einer Kundin, wie man die Lichter in einer seiner Laternen wechseln kann. Gleichzeitig gibt er einem Kind einen Elch, das seine Hände danach ausgestreckt hat. Seine Hände bewegen sich ruhig und sicher und sein Lächeln ist schief, aber perfekt.
Je näher ich komme, desto unsicherer werde ich, ob ich hingehen soll oder lieber wieder nach Hause gehe und sehe, ob ich nicht doch noch in der Galerie helfen kann. Sicherlich gehen die Gäste bald und es muss aufgeräumt werden. Ich wollte ja auch nur für einen Moment auf das Festival gehen, und der ist eigentlich vorbei.
Mein Herz sagt hingegen, dass ich auf jeden Fall zu ihm gehen sollte, während mein Kopf eher für die Variante „verschwinden“ ist.
Mein Körper ist verwirrt und so bleibe ich einfach stehen. Beobachte Tucker, bis er aufblickt, als ich gerade wieder in meinen Funnel Cake beiße.
Unsere Blicke treffen sich und sofort kribbelt es wieder überall in mir, wie schon den ganzen Morgen.
Besonders hinter meinen Rippen und in meinen Fingerspitzen. Bis hoch in meinen Hals.
Obwohl ich ihm gesagt habe, dass ich vielleicht noch einmal vorbeischaue, sieht er überrascht aus.
Doch sein Blick wird wärmer. Vorsichtig zwar, aber eindeutig. Als wüsste er nicht, ob er sich freuen darf, dass ich gekommen bin.
Er hebt die Hand und ich denke, er will mich grüßen. Hebe meine ebenfalls, doch dann deutet er mit seinem Finger auf meine Nase.
Ich runzele die Stirn und sehe ihn fragend an.
Er lacht und wiederholt die Geste, deutet auf den Kuchen in meiner Hand, und ich reiße die Augen auf. Als ich mit meinen Fingern an meine Nase fasse, sehe ich den Puderzucker daran. Schnell reibe ich so lange darüber, bis ich das Gefühl habe, dass man nichts mehr davon sieht.
Ich schwitze. Wie peinlich. Jetzt stand ich die ganze Zeit hier und hatte Puderzucker an der Nase.
Tucker nickt, als wir uns wieder in die Augen sehen. Puh, wenigstens scheint alles weg zu sein. Bevor er wegsieht, lächelt er. Scheu. Als wollte er sagen, dass es schön ist, dass ich da bin, er mich aber nicht drängt, zu ihm zu kommen.
Das mag ich an ihm. Er achtet auf Menschen. Liest sie.
Trotzdem zerbricht etwas in mir. Wie lieb, wenn auch zurückhaltend, er ist. Obwohl ich das nicht verdient habe.
Auch wenn er es nicht mehr sieht, lächle ich. Eigentlich sollte ich gehen.
Aber ich bleibe. Esse meinen Kuchen – wenn auch vorsichtiger. Beobachte die Menschen, die lachen, etwas an seinem Stand kaufen oder zusammenstehen, essen und reden.
Immer wieder suche ich mit meinem Blick Tucker, doch er ist zu beschäftigt, um ihn zu finden.
Er zeigt Laternen, hält sie hoch, zeigt, wie das Licht fällt. Redet mit einem Kind, das ihm etwas zeigt, was aussieht wie ein Stock. Zwischendurch schiebt er seine Mütze zur Seite, um sich am Kopf zu kratzen, und sieht dabei aus, als würde er versuchen, Ordnung in seine Gedanken zu bringen.
Ich fühle mich wie eine Fremde. Die zu viel Zeit mit ihm verpasst hat, um noch dazuzugehören.
Als mir kalt wird, gehe ich rüber zu einem der Kakao-Stände. Er wird mich wärmen, ehe ich mich auf den Heimweg mache.
Die Schlange ist nicht so lang wie am Wochenende und ich bestelle mir einen Kakao mit extra Marshmallows – etwas, das ich mir sonst nie erlaube. Aber das tue ich auch bei Funnel Cake normalerweise nicht.
Ich stelle mich neben die Hütte, als mir der Kakao gereicht worden ist, und wärme meine Hände an der Tasse. Sehe ein paar Kindern zu, die Fangen um den Baum herum spielen.
Bis ich jemanden neben mir spüre.
Ich weiß, dass es Tucker ist, bevor ich mich zu ihm umdrehe. Ich kann seinen Duft riechen – warm, nach Holz und mit einem Hauch von Moos.
»Hey«, sagt Tucker.
Ein ruhiges Wort und alles in mir wirbelt durcheinander.
Als ich lächle, zittern meine Lippen und mein Herz stolpert, als hätte es das Gleichgewicht verloren.
»Extra Marshmallows, hm? Dass ich das noch erleben darf.«
»Ich lebe eben gefährlich.«
»Das tust du.« Er grinst.
Ich sehe zu seinem Stand, an dem nur ein paar Leute stehen, aber niemand, der ihn vertritt. »So wie du, wie es aussieht. Du lässt deinen Stand alleine?«
Tucker zuckt mit den Schultern. »Claire ist da. Sie hat ein Auge drauf. Und ich glaube nicht, dass mich jemand bestehlen würde.«
So wie er das sagt, glaube ich es auch nicht. Er tritt einen Schritt von mir weg. Als wäre er mir zu nah, als wollte er mir zeigen, dass er mich nicht bedrängt. So wie er es gesagt hat, als ich gegangen bin. Ich tue so, als würde ich es nicht merken, auch wenn ich es zu schätzen weiß, dass er mir den Raum gibt, den ich nicht mal eingefordert habe.
»Es ist schön heute«, sage ich, als ich die Stille nicht mehr aushalte, und lasse meinen Blick über den Platz gleiten.
»Ja«, erwidert er, sieht auf seine Schuhspitzen und wippt hin und her, mit den Händen in den Jackentaschen. »Jetzt schon.« Die Worte kommen so leise, dass ich sie fast nicht höre. Gerade noch erwische, wie einen Drachen im Herbst, der droht, davonzufliegen.
Seine Worte rumoren in meinem Bauch.
Zu schön. Zu viel und zu gefährlich.
Wir stehen nebeneinander. Nicht nah, aber auch nicht weit. Sehen dem Lichterglanz und dem Treiben des Festivals zu. Alle, die uns nicht kennen, würden uns vielleicht für ein Paar halten. Alle, die uns kennen, wissen die Wahrheit, und ich frage mich, was sie wohl denken.
»Wenn du noch mal kommst, zeige ich dir die neuen Anhänger, die ich gemacht habe. Sie liegen noch in meiner Werkstatt. Also, falls du magst.« Er sagt es schnell, als hätte er Angst vor meiner Antwort. »Vielleicht gefallen sie dir.«
»Vielleicht komme ich«, sage ich. Und lächle. Es ist wie ein liebgewonnenes Ritual zwischen uns geworden.
Er nickt. Warm und leicht. Dann hebt er eine Augenbraue und geht zurück zu seinem Stand. Nicht schnell wie seine Worte und nicht, als wäre etwas passiert. Er zeigt mir nur, dass es okay ist, dass ich zögere mit meinen Zusagen.
Ich sehe ihm nach und denke, dass es vielleicht ihm zu liebe ist, dass ich zögere.
Werden es in 19 Tagen noch immer Vielleichts sein?
Ich weiß es nicht.
Na, mal sehen, wie lange Lila noch Vielleicht zu Tucker sagt. Bis zum 25. Dezember sind es ja noch ein paar Tage …
Rockt euren Tag, meine lieben Rockeronies
eure