Adventskalender Türchen 7
Tucker
07.12.2025
Mein Tag beginnt in meiner Werkstatt. Ich hänge mit den Aufträgen etwas hinterher. Zum Glück haben alle in Silver Pines Verständnis, weil sie wissen, dass ich mich um das Festival gekümmert habe. Aber alle Auftraggeber außerhalb von Silver Pines nicht. Also sortiere ich erst mal Unterlagen und sehe, was ich dringend erledigen muss und was noch warten kann.
Ich hasse Büroarbeit, aber die gehört leider dazu, und ich seufze, als ich mich in den alten Bürostuhl setze, der gefährlich knarzt. Irgendwann muss ich ihn ersetzen. Auch so was, wo ich mich einfach nie drum gekümmert habe bisher.
Ich schalte das Radio ein und ein weihnachtlicher Countrysong beschallt mein Büro. Kurz danach wird er unterbrochen.
»Wir unterbrechen unser Programm für eine Durchsage. Heute werden starke Windböen erwartet. Die Bevölkerung wird aufgerufen, Wälder und Bäume zu meiden. Es kann vereinzelt zu starken Böen führen, die zur Gefahr werden können.«
Der Song spielt weiter.
»Na wunderbar«, murmele ich. Wind kann das Festival nicht gebrauchen. Genauso wenig wie die Dächer der Stadt. Aber erst mal abwarten. Vielleicht wird es nicht so schlimm.
Ich revidiere meine Meinung kurze Zeit später, als ich im Hof meiner Werkstatt stehe. Der Wind pfeift ordentlich. Blätter und Äste fegen über den Boden, tanzen und werden aufgewirbelt. Wenn ich den Himmel sehe, mache ich mir keine Hoffnungen, dass es schnell aufhören wird.
Während ich an einem alten Schrank arbeite, den ein Kunde runderneuert haben möchte, versuche ich, den Wind zu ignorieren. Doch tief in meinem Inneren weiß ich, dass er noch an Stärke zunehmen wird.
Ich behalte recht, als ich am Nachmittag im Hof neues Holz hole, für einen Tisch, den jemand bei mir bestellt hat. Der Himmel wird dunkler. Nicht langsam, sondern diese dunklen, bedrohlichen Wolken türmen sich plötzlich auf, als würden sie etwas hinter sich verstecken.
»Das ist nicht gut für das Festival«, murmele ich kurze Zeit später, als ich die Arbeit an dem Tisch beende. Ich will nur noch letzte Vorbereitungen treffen und die neuen Ornamente einpacken, ehe ich mich auf den Weg zum Winterlights Festival und zu meinem Stand mache. Wobei ich wirklich überlege, ob ich nicht mit dem Bürgermeister sprechen und ihn lieber bitten soll, das Festival heute Abend abzusagen.
Als ich gerade alle Ornamente in einen Karton packe, klingelt mein Handy.
»Tucker!«, ruft mir jemand entgegen, als ich den Anruf annehme und noch nicht mal meinen Namen gesagt habe. Ich höre lautes Rufen und viele Stimmen, die durcheinander rufen. »Du musst unbedingt herkommen.« Erst jetzt erkenne ich Tom.
»Ich bin schon auf dem Weg«, erwidere ich. »Was ist passiert?«
»Wir haben hier echt Probleme mit dem Sturm. Hütte 27 hat es erwischt. Bring Werkzeug mit.«
»Mache ich.« Ich lege auf. »Fuck.« Ein Glück ist alles noch auf meinem Truck und ich kann direkt losfahren.
Als ich am Festplatz ankomme, hat der Wind noch einmal zugenommen. Blätter fegen über den Boden und die Böen zerrten an seiner Jacke und seinen Haaren. Ich renne über den Platz und sehe schon von Weitem, dass es die 27 hart getroffen hat. Der Frontbalken hängt ganz schief, einer der Pfeiler hat sich gelöst, und wenn man das jetzt nicht schnell repariert, dann ist es das mit der Hütte. Und ihrem Inhalt. Und wenn ich man sage, meine ich eher mich. Tom und die anderen stehen daneben und wirken ratlos.
»Tucker! Gott sei Dank.«
»Wir müssen den Pfeiler stabilisieren.« Mein Handy vibriert schon wieder, aber ich habe jetzt keine Zeit. Ich prüfe die Hütte, ob sie noch standfest ist oder wir sie nicht mehr retten können. Es sieht aber ganz gut aus. Ich gebe Tom und den anderen Anweisungen, mein Werkzeug zu holen.
»Vielleicht sollten wir heute Abend absagen«, sage ich zu niemand Bestimmten, als ich anfange, den Balken wieder zu richten.
»Nein, der Bürgermeister hat schon gesagt, dass wir das nicht machen …« Claire ist zur Gruppe dazugekommen. Sie betreibt die Hütte neben der 27. »Er meinte nur, dass du dich dann kümmern solltest, Tucker, und ein Auge auf die Hütten haben solltest.«
Ich runzele die Stirn. Sehe Claire an. »Dann muss ich meinen Stand heute Abend aber schließen …«
»Das ist kein Problem. Ich habe schon mit Vivian gesprochen, sie sucht einen Ersatz, der bei dir einspringen kann.«
»Was? Aber ich habe gar keine Zeit, alles zu erklären …«
Claire winkt ab. »Tucker, mach dir keine Sorgen, Vivian weiß, was sie tut.« Ihr Handy vibriert. Sie schaut darauf und lächelt. »Ja, ich glaube, deine Probleme sind gelöst. Ersatz ist auf dem Weg zu deinem Stand.«
Damit wendet sie sich ab und ich kann nur noch rufen: »Aber wer denn?«
Doch sie hört mich nicht, wobei ich das eindeutige Gefühl habe, dass sie mich nicht hören will.
Allerdings habe ich auch keine Zeit, mich damit weiter zu beschäftigen, denn die Jungs sind zurück und wir kümmern uns um die Hütte. Als das erledigt ist, gibt es schon den nächsten Notfall: An einer anderen Hütte ist die Beleuchtung abgefallen.
Der Wind legt sich zwar, aber ich bin den ganzen Abend beschäftigt und habe nicht einmal Zeit, nachzusehen, wer nun eigentlich an meinem Stand für mich eingesprungen ist. Das kommt davon, wenn man sich selbst irgendwo an den Rand des Geschehens platziert.
So schnell ich kann, arbeite ich alles ab. Der Sturm hat sich scheinbar bei jeder Hütte etwas vorgenommen. Während ich mir zwischendurch wünschte, mich aufteilen zu können, kommt mir immer wieder der Gedanke, wann mein Leben so kompliziert geworden ist, obwohl ich eigentlich immer das Gleiche tue.
Als ich endlich alles repariert habe und mal niemand hinter mir steht, als ich mein Werkzeug zurück in den Kasten packe, bringe ich es zum Auto und dann laufe ich, so schnell ich kann, zu meinem Stand.
Ich laufe nicht, ich renne.
Das Festival ist heute nicht so gut besucht, aber es gibt immer Unerschrockene, die jedem Wetter trotzen. Die Touristen, allen voran, immerhin haben sie oft nicht viel Zeit, um das Festival zu besuchen.
Als ich außer Atem meine Hütte erreiche, stoppe ich abrupt.
Weil sie dort steht. Lila.
In meinem Stand.
Zwischen all meinen Holzarbeiten. Als würde sie genau hierhin gehören. Mein Herz stolpert – schon wieder, dieser Verräter. Ich schaffe es nicht mal, es auf meine schlechte Kondition zu schieben, weil ich weiß, dass es ihretwegen ist. Wegen Lila.
War sie schon immer so klein? So verletzlich? Wie sie da steht, der Mantel offen, der Schal schief, und irgendwie wirkt sie, als wäre sie unfassbar nervös und gleichzeitig entschlossen, alles richtig zu machen.
Ich bin nicht darauf vorbereitet, dass sie so tief wieder in meine Welt zurückkehrt. Aber ich hätte mir denken können, dass Vivian Lila schicken würde. Warum nur habe ich nicht richtig zugehört, als Claire ihren Namen ins Spiel gebracht hat?
Jetzt stehe ich hier und weiß nicht, was ich tun soll.
»Lila?« Ihr Name hat meine Lippen dann schneller verlassen, als mein Kopf es sich überlegen konnte.
Sie zögert einen Moment, ich sehe es, doch dann dreht sie sich zu mir um und ein unsicheres Lächeln breitet sich auf ihren Lippen aus.
»Hi.« Sie hebt die Hand und wie eine Marionette mache ich es ihr nach.
»Was tust du hier?«
Sie runzelt die Stirn. »Ich … ich helfe aus? Hat Claire dir nicht gesagt …« Sie sieht zu Boden, grinst und sieht mich dann wieder an. »Natürlich hat sie dir nichts gesagt.« Ich lächele auch und schiebe meine Hände in meine Jackentaschen. »Meine Mom hat mich hergeschickt, weil sie meinte, dass du niemanden hast, der einspringt … Sie konnte nicht weg und war sicher, dass ich das auch kann.«
»Und? Kannst du?« Ich lege den Kopf leicht schräg und beobachte sie.
»Zumindest habe ich nicht mehr kaputtgemacht als der Sturm.« Sie sieht sich um. »Deine Hütte hat es gut überstanden.«
Mein Grinsen wird breiter, obwohl ich es nicht will, aber ich kann nichts dagegen tun.
»Okay. Dann ist es ja gut.« Und ich meine es wirklich so. Es ist gut, dass sie hier ist. Ich weiß nur noch nicht, wieso. »Du kannst gern noch bleiben.« Warum ich das sage, weiß ich nun wirklich nicht, aber mein Magen zieht sich wohlig zusammen, als sie nickt. »Danke, dass du eingesprungen bist.«
Wenn ich es nicht besser wüsste, denke ich, sie wird gerade ein wenig rot. Und ich denke nicht, dass es nur von der Kälte kommt.
Sie tritt ein wenig zur Seite, als ich die Hütte betrete. Zu zweit ist es eng, und irgendwie sind wir beide darauf bedacht, uns nicht zu berühren.
Eine Weile ist es recht ruhig an meinem Stand und ich hole die neuen Ornamente aus meinem Wagen.
Während Lila hinter dem Stand steht und vorsichtig Laternen auspackt, die kleinen Tannen sortiert und versucht, nichts kaputtzumachen, hänge ich die neuen Ornamente auf. Reiche ihr ab und zu eines in die Hütte, zeige ihr, wo ich sie hängen haben möchte.
Während ich den Rest auspacke, beobachte ich sie zwischendurch immer wieder.
Sie ist unfassbar vorsichtig, als wüsste sie genau, wie viele Stunden Arbeit ich in jedes einzelne dieser Teile gesteckt habe. Ihre Hände sind ganz ruhig und ihr Blick … als wäre es nicht nur Holz, was sie festhält. Sondern etwas ganz Besonderes.
Doch dann passiert es: Wir sind beide in der Hütte, es haben sich einige Kunden versammelt, und wir kommen uns nah, zu nah.
Lila tritt zu schnell nach vorn, kommt gegen eine der filigranen Schneeflocken, von denen ich heute noch neue mitgebracht habe, weil die anderen in meinem Bestand abgenommen haben. Es ist die aus Zedernholz. Die nur zu Dekozwecken hier hängt. Meine erste, die, die ich damals für sie gemacht habe. Kurz bevor sie mir gesagt hat, dass sie nach New York gehen würde. Die sie nie bei mir abgeholt hat.
Ich sehe, wie sie kippt. Lilas Augen werden riesig, aber es dauert, bis sie reagiert, und ich bin schneller. Greife nach der Schneeflocke, fange das dünne Holz auf, bevor es den Tisch berührt und dann zu Boden krachen kann. Dabei streifen sich unsere Finger. Sind sich so nah, dass ich ihre Wärme spüren kann.
Zischend zieht Lila die Luft ein. Erschrocken oder überrascht, vielleicht in diesem Moment beides. So wie ich.
In meiner Hand liegt die Schneeflocke und die Erinnerungen treffen mich wie Hammerschläge.
Ich saß nachts in meinem Schuppen und habe daran gearbeitet. Als ich sie ihr gezeigt habe, wusste ich sofort, dass was anders ist. Zwischen uns. In Lila. Wie sie mir gesagt hat, was sie vorhat, und es mir den Boden unter den Füßen weggerissen hat. Ich sagte ihr, wie mutig ich es finde und dass ich hinter ihr stehe, obwohl ich nicht wusste, wie ich ohne sie weiteratmen soll.
Die Schneeflocke hat sie nie abgeholt.
»Die kenne ich gut«, sage ich leise und drehe das filigrane Holz in meiner Hand. Es ist kein Vorwurf, sondern nur die Wahrheit. Ich will sie mit Lila teilen.
»Oh, wirklich?« Lila sieht auf die Schneeflocke, dann auf mich. In ihren Augen liegt so etwas wie eine Erkenntnis.
»Ja, ich habe sie behalten. Sie hing lange in meiner Werkstatt. Seit …«
Lila streicht mit dem Finger darüber.
»Ich dachte … ich meine … wow, ich habe wirklich gedacht, sie wäre in meinen Sachen gelandet.«
Hat sie das? Wie unterschiedlich ihre Erinnerung ist.
»Nein.« Unsere Blicke treffen sich. »Du hast sie damals nicht mehr abgeholt.«
Sie beißt sich auf die Lippen und sieht zu Boden. Wieder schießt ihr Hitze in die Wangen, ich kann es im Licht der Hütte gut erkennen. Aber ich glaube nicht, dass sie sich schämt, sondern wegen etwas anderem. Aber ich kann mich täuschen – ich hoffe es, denn es kommt mir gefährlich vor.
Ich reiche ihr die Schneeflocke und ihre Finger zittern, als sie sie nimmt.
Vielleicht. Vielleicht bilde ich es mir auch nur ein und es ist die Kälte.
Der Moment ist vorbei, als eine Kundin mich anspricht. So nah wie in diesem Moment kommen wir uns den restlichen Abend nicht mehr.
Als das Festival langsam zu Ende geht für diesen Tag, hat der Wind sich gelegt. Nicht mal mehr ein Lüftchen ist zu spüren. Die Hütten um uns herum machen langsam zu und ich sollte auch einpacken, aber ich kann nicht. Lila und ich stehen einfach nebeneinander, sehen dem Treiben auf dem Platz zu. Ich genieße es, sie bei mir zu haben. Ob sie das wohl auch tut?
Wie wäre es wohl, wenn sie wieder in Silver Pines leben würde? Wann habe ich aufgehört, mir das eigentlich vorzustellen? Habe ich das überhaupt? Ich weiß es nicht.
Irgendwann sieht Lila mich an. »Danke, dass du sie so lange aufbewahrt hast.«
Ich weiß nicht, ob sie wirklich nur die Schneeflocke meint.
Oder die Erinnerungen, die damit verknüpft sind.
»Jederzeit«, ist alles, was ich erwidern kann.
Als sie geht, winkt sie mir noch einmal, und auch wenn sie nun mit der Schneeflocke nach Hause geht, ist etwas anderes zu mir zurückgekehrt, von dem ich dachte, ich hätte es lange verloren.
Hoffnung.
Und etwas in mir möchte, dass diese in den nächsten 18 Tagen weiterwächst.
Wir lesen uns morgen? Es würde mich freuen.
Rockt on,
eure