Adventskalender Türchen 16
Lila
16.12.2025
Ich wache langsam auf, grabe meine Nase in mein Kissen und noch ehe ich die Augen aufschlage, weiß ich: Etwas ist anders.
Nicht falsch oder schlecht. Nur eben anders. Ich schlage die Augen auf. Das ist nicht mein Zimmer und das ist auch nicht mein Bett. Ich habe keinen Blick für den Ort, an dem ich bin. Die Erinnerung kommt zurück. Der Schneesturm, Tucker … Das hier ist Tuckers Bett. Und ich bin eingewickelt in eine Decke, die nach Holz und vor allem nach ihm riecht.
Und Tucker …
Er liegt neben mir.
Seinen Arm hat er unter mein Kissen geschoben und unter der Decke halten wir unsere Hände. Ich bewege mich nicht, damit ich den Moment nicht zerstöre.
Das Licht, das ins Zimmer fällt, ist hell – viel zu hell für einen normalen Wintermorgen. Der Schnee, der gefallen ist, reflektiert es. Ich lausche auf Geräusche, aber es ist still. Kein Wind mehr, der um das Haus heult. Also muss der Blizzard aufgehört haben.
Ich drehe meinen Kopf leicht und sehe Tucker an, der noch tief und fest schläft. Sein Gesicht ist entspannt, seine Lippen leicht geöffnet und die Linien um seine Augen weicher als sonst.
Friedlich sieht er aus und jünger. Mein Herz zieht sich zusammen und mein Magen flattert. Wie konnte ich diesen Mann jemals verlassen?
Als ich mich ganz vorsichtig bewege, um mich aufzurichten, schießt Schmerz durch mein Knie. Um nicht aufzuschreien, beiße ich mir auf die Lippe.
Scheiße. Das Knie. Die gemütliche Bubble hier in Tuckers Haus und der Abend gestern haben es mich fast vergessen lassen. Als wir uns durch den Schnee gekämpft haben, hat es ein bisschen wehgetan, aber Tuckers Fürsorge hat den Schmerz verklingen lassen und ich konnte es gut ignorieren. Jetzt allerdings nicht mehr, denn es fühlt sich an, als hätte jemand mit einem Hammer draufgeschlagen. Wie kurz nach meinem Sturz.
Es ist steif. Geschwollen und vor allem furchtbar heiß.
Noch einmal versuche ich, das Bein zu beugen – aber ich entscheide mich direkt dagegen.
»Verdammt«, zische ich und presse die Lippen zusammen, als Tucker sich neben mir rührt.
»Lila?« Er hat die Augen noch geschlossen, als er meinen Namen murmelt.
»Morgen«, sage ich leise.
Er blinzelt, als er die Augen öffnet und mich ansieht. Dann lächelt er und sofort beschleunigt sich mein Puls.
»Morgen.«
»Wie viel Uhr haben wir?« Darüber habe ich mir noch gar keine Gedanken gemacht, aber jetzt ist es eine willkommene Abwechslung zu seinem Lächeln, das mich aus dem Konzept bringt.
Tucker dreht sich von mir weg, löst seine Hand von meiner, was mich kurz traurig zurücklässt, und greift nach seinem Handy auf dem Nachttisch.
»Oh, es ist schon kurz nach 9.«
»Wow, so lange habe ich ewig nicht mehr geschlafen … Wobei, seit ich bei meinen Eltern bin, schlafe ich so lange.« Ich lache, weil das alles so skurril ist.
»Also, ich habe seit Ewigkeiten nicht mehr so lange geschlafen«, sagt Tucker und streckt sich ausgiebig. Dabei rutscht sein Shirt nach oben und ich sehe schnell weg. Das ist einfach zu viel am frühen Morgen, und nachdem sein Lächeln mich schon aus dem Konzept gebracht hat.
Er reibt sich die Augen und setzt sich auf. »Wie geht es deinem Knie?«
Ich sehe weg. »Es geht.«
Tucker räuspert sich und zwingt mich so, dass ich ihn ansehe.
»Lila.«
Ich seufze, lehne den Kopf gegen die Rückwand des Bettes und sage: »Okay, es ist scheiße.« Dann sehe ich ihn an. »Zufrieden? Es tut weh. Sehr weh und mehr als gestern.«
Ohne ein Wort zu erwidern, steht Tucker auf und verschwindet aus dem Zimmer.
Ich höre ihn in der Küche hantieren, Schubladen öffnen und Wasser laufen lassen. Als er zurückkommt, hat er eine Schüssel mit Eis, ein Handtuch und eine Packung Schmerzmittel in der Hand.
»Wir haben immer noch keinen Strom«, sagt er und tritt ans Bett, stellt alles auf dem Nachttisch ab, schiebt die Decke zurück und sieht mich fragend an. »Darf ich?«
Ich nicke und Tucker setzt sich erst auf die Bettkante, bevor er die Hose bis über das Knie schiebt. Dann legt er das mit Eis gefüllte Handtuch vorsichtig auf mein Knie.
»Shiiiiiit«, stoße ich zischend auf und zucke zusammen. Es ist kalt, so kalt. Aber dann entspanne ich mich.
»Danke«, flüstere ich.
»Kein Problem.« Tucker reicht mir die Schmerzmittel und ein Glas Wasser. »Hier, das sollte helfen.«
Ich nehme ihm beides ab und schlucke die Tabletten, während Tucker mich ernst ansieht.
»Du bleibst heute hier.«
»Tucker …« Jetzt setze ich mich noch weiter auf, ignoriere das Ziehen in meinem Knie.
»Lila«, unterbricht er mich, »dein Knie ist angeschwollen und damit wirst du kaum laufen können. Und selbst wenn … schau aus dem Fenster. Die Straßen sind nicht frei, die Gehwege auch nicht, und auch wenn Silver Pines klein ist, müsstest du dich ganz schön durchkämpfen. Wie soll das gehen?«
»Mein Dad kann mich holen«, werfe ich ein.
»Du willst ihn da raus jagen?«
Ich beiße mir auf die Lippen. Nein, natürlich will ich das nicht.
»Aber …«
»Kein Aber.« Seine Stimme ist fest, aber nicht hart. »Du gehst nirgendwohin. Nicht heute.«
Ich sehe ihn an und gebe mich geschlagen. »Okay.«
»Gut.« Er lächelt. »Dann mache ich uns Frühstück.«
Damit verschwindet Tucker in der Küche und ich bleibe im Bett liegen, das Eis noch auf meinem Knie. Aus der Küche dringen das Klappern von Pfannen und das Zischen von Eiern, die in ihr aufgeschlagen werden. Der Geruch von Speck und frischem Kaffee dringt zu mir und ich frage mich, wie er das ohne Strom hinbekommt. Aber Tucker wäre nicht Tucker …
Ich lasse meinen Kopf zurück in das Kissen sinken, schließe die Augen und atme tief ein. Es ist schön, bei ihm zu sein. Zu schön, denn ich merke, dass ich mich daran gewöhnen könnte. Das macht mir so eine Angst, dass ich die Augen aufreiße.
»Du musst mich nicht bedienen«, sage ich lachend, als Tucker mit einem Tablett zurückkommt. Darauf Rührei, Speck, Toast und Kaffee.
»Will ich aber.« Er stellt das Tablett am Fußende des Bettes ab und setzt sich neben mich. »Außerdem kannst du ja nicht laufen. Also iss und genieße.«
»Ich kann mich gar nicht mehr daran erinnern, dass du so ein Tyrann bist.«
»Wie konntest du das nur vergessen?«
Wir essen zusammen, schweigend, aber es ist eine gute Stille. Eine, in der man sich sicher fühlt.
Als ich den letzten Bissen von meinem Toast nehme, sehe ich zum Fenster. »Wie sieht es draußen aus?«
»Weiß, sehr weiß. Ganz so, wie du es dir gewünscht hast.« Er lacht. »Ich war kurz auf der Veranda, der Schnee liegt sicherlich einen halben Meter hoch, wenn nicht mehr.«
»Wow!«
»Das kommt eben davon, wenn man sich gleich zweimal Schnee wünscht.« Ich stupse ihn in die Seite und er lacht. »Die Stadt ist mit Sicherheit total dicht. Keine Autos, keine Busse, nur Schneepflüge. Und bis die hierher durchkommen …«
»Bin ich hier gefangen?«
Er sieht mich an und ein kleines Lächeln liegt auf seinen Lippen.
»Sieht so aus. Schlimm?«
»Absolut!«, erwidere ich trocken. »Eine Tragödie!«
Er lacht. »Ja, schrecklich.«
Als er aufsteht, um das Tablett in die Küche zu bringen, klingelt mein Handy irgendwo in einem anderen Zimmer.
»Warte, ich bringe es dir.« Tucker verlässt das Zimmer und kommt wenig später mit dem Telefon zurück. »Deine Mom. Sicher machen sie sich Sorgen.«
Ich nehme es entgegen und den Anruf an. »Hi, Mom. Alles okay bei euch?«
»Lila! Ja, uns geht es gut. Wir haben keinen Strom, aber zum Glück den Ofen. Wie geht es dir? Wo bist du?«
»Mir geht es gut, Mom. Ich bin noch immer bei Tucker.«
Stille.
»Bei Tucker?«
Ich hatte ihr nur geschrieben, dass ich für die Nacht sicher bin, aber unerwähnt gelassen, bei wem ich bleibe.
»Ja, er war so nett, mich gestern Abend vor dem Schnee zu retten.«
»Aha.« Sie klingt amüsiert und ich merke, wie sehr mich das stört. »Und? Wie geht es deinem Knie?«
Ich werfe Tucker einen Blick zu, der noch im Raum steht. Er tut zwar so, als würde er nicht zuhören, sondern seine Seite des Bettes machen, aber seine Mundwinkel zucken.
»Es geht. Tucker kümmert sich um mich.«
»Natürlich tut er das.« Mom lacht leise. »Bleibst du noch eine Nacht?«
»Ich weiß nicht, Mom, vielleicht kann Dad …«
»Lila, die Straßen sind noch nicht frei und sie sagen, dass das noch bis morgen dauern kann. Bleib, wo du bist, Zuckerfee. Es ist sicherer so. Gerade mit deinem Knie und Dad kann ich so auch nicht fahren lassen. Er würde nicht mal aus der Ausfahrt rauskommen.«
»Okay.«
Kurz schweigen wir, ehe Mom sagt: »Und Lila?«
»Wir haben gesehen, wie du Tucker ansiehst … und nicht nur wir.«
Hitze schießt mir in die Wangen und ich knete meine Unterlippe mit zwei Fingern. Tucker hebt eine Augenbraue. Mein Herz stolpert.
»Mom …«
»Ich sage nur: Es ist okay, Lila. Und es ist schon so lange her. Wirklich.«
Sie legt auf, bevor ich noch etwas sagen kann, und ich starre entgeistert auf mein Handy.
»Alles okay?«
»Mh?« Ich sehe auf. »Ja. Nur … du kennst meine Mom.«
»Was hat sie gesagt?«
»Dass ich hierbleiben soll. Dad kommt nicht mal aus der Ausfahrt und die Straßen werden vor morgen nicht frei sein.«
Den Teil darüber, dass sie gesehen haben, dass alle gesehen haben, wie ich ihn ansehe, lasse ich weg. Das wäre irgendwie … peinlich.
»Gut.« Tucker lächelt und geht zur Tür. »Dann ist es ja entschieden.«
Aber irgendetwas in seinem Blick sagt mir, dass er weiß, dass ich was ausgelassen habe. Er fragt nicht danach, und ich bin dankbar, als ich ihm zunicke.
Meine Gedanken wirbeln durch meinen Kopf. »Wir sehen, wie du ihn ansiehst.«
Der Tag mit Tucker vergeht langsamer, als ich es erwartet hatte. Aber es ist schön. Tucker hat mir vom Bett ins Bad und von dort auf das Sofa geholfen. Er wechselt das Handtuch und das Eis, gibt mir noch mal Schmerzmittel. Eingewickelt in Decken sitzen wir nebeneinander und sehen dem Feuer zu.
Wir haben keinen Strom, also auch kein Fernsehen und kein Radio, aber das macht gar nichts. Tucker hat ein Kartenspiel herausgeholt, bei dem ich ihn dreimal schlage und irgendwie fühlt sich das hier alles wie eine Zeitreise an.
Wie früher, als wir noch Teenager waren und stundenlang auf einem Sofa gesessen haben, damals bei ihm zu Hause, bei seinen Eltern – und über alles und nichts geredet haben.
»Erinnerst du dich?«, frage ich ihn irgendwann.
»Was meinst du?«, fragt er mich und legt das Kartenspiel beiseite.
»Daran.« Ich deute auf das Sofa und auf uns beide. »An uns. Wie wir immer zusammengesessen und einfach nur geredet haben.«
Er hält in der Bewegung inne und lächelt. »Ja, ich erinnere mich.«
»Wir waren so jung.« Ich verknote meine Finger ineinander.
»Waren wir wohl.« In Tuckers Tonfall liegt ein Lächeln.
»Und so … naiv.«
»Warst du.« Er grinst. »Ich war schon immer weise.«
Ich boxe ihn gegen den Arm. »Du Lügner.«
»Vielleicht.«
Als er lacht, falle ich mit ein.
Tucker legt am Abend noch Holz nach und wir haben uns den ganzen Tag kaum bewegt. Außer in die Küche, um alle seine Vorräte zu plündern, und dann habe ich ihm wieder beim Kochen zugeschaut. Jetzt setzt er sich wieder zu mir auf das Sofa und ich lehne meinen Kopf an seine Schulter.
»Tucker?«
»Ja?«
»Danke für alles. Dass ich hier sein darf und dass du dich so um alles kümmerst. Dass du eben einfach … du bist.«
Er legt seinen Arm um mich und ich kuschele mich noch enger an ihn.
»Jederzeit, Lila. Immer.«
Als ich die Augen schließe, weiß ich es. Ich will bleiben. Nicht nur diese Nacht und nicht nur bis Weihnachten, sondern ich will bei ihm bleiben. Hier.
Allerdings weiß ich nicht, ob ich mir das überhaupt wünschen darf. Immerhin habe ich ihm das schon einmal mehr oder weniger versprochen und bin dann gegangen, weil sich eine andere – damals vermeintlich bessere Chance – ergab. Warum soll er mir noch mal vertrauen? Auch wenn er es in seinen Wunschstern geschrieben hat?
Was muss ich tun, damit er sich sicher fühlt, so wie ich es gerade tue?
An diesem Abend schlafen wir zusammen auf dem Sofa ein. Seine Hand in meiner. Und zum ersten Mal fühle ich mich nicht, als wäre ich verloren. Ich bin wieder zu Hause.
Aber morgen … morgen muss ich ihm zeigen, dass ich es ernst meine. Mit dem Nachhausekommen. Dass ich dieses Mal nicht weglaufe.
Ich habe noch 9 Tage. Und ich werde jeden einzelnen davon nutzen.
Aww, freut ihr euch auch so für Lila? Ich drücke ihr alle Daumen, dass sie Tuckers Vertrauen zurückgewinnt.
Rockt on, Rockeronies
eure