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Adventskalender Türchen 17

Tucker

17.12.2025

Als ich aufwache, ist mein Bein eingeschlafen. Kein Wunder. Wir haben die Nacht auf dem Sofa verbracht. Lila liegt noch neben mir, eingerollt unter der Decke, ihr Kopf an meiner Schulter.

Auch wenn mein Bein jetzt unangenehm kribbelt, bewege ich mich nicht. Ich will sie nicht wecken. Von draußen dringt ein Brummen ins Haus, das von einem Schaben untermalt wird. Schneepflüge. Sie haben es bis zu mir geschafft, und wie es aussieht, sind auch die Nachbarn schon fleißig dabei, dem Schnee Herr zu werden.

Das Leben in Silver Pines erwacht, nachdem es zwei Tage von einer Schneedecke zur Ruhe gezwungen worden ist. Lila kann heute wieder nach Hause und ich habe einen Kloß im Hals. Ich will nicht, dass sie geht.

Lila rekelt sich, blinzelt verschlafen und sieht mich an.

»Morgen«, murmelt sie, und ich lächle, weil sie so zerknautscht aussieht.

»Morgen.«

»Wie viel Uhr haben wir?«

»Ehrlich gesagt, ich weiß es nicht. Mein Handy ist tot.« Wir haben noch keinen Strom, aber wenn die Straßen frei sind, wird das wohl nicht mehr so lange dauern. Ich drehe den Kopf und schaffe es, auf die Wanduhr in der Küche zu sehen. »Kurz nach zehn.«

»Wow! Bei dir schlafe ich wirklich gut. Du bist ein schlechter Einfluss.«

»Ich? Du, würde ich eher sagen. Normalerweise schlafe ich unter der Woche nicht so lange, da bin ich um sieben schon auf. Nicht mal am Wochenende wird es so spät.«

»Dann schläfst du eben besonders gut neben mir«, sagt sie, und wird rot. Ich merke es, auch wenn sie schnell wegsieht und versucht, es zu verbergen.

Auch wenn ich es nicht wahrhaben will … Spätestens als wir frühstücken, merke ich, dass es Zeit wird, dass das Leben weitergeht. Es sind meine letzten Vorräte: Toast, Marmelade und Kaffee. Dabei hat es sich so gut angefühlt in dieser Blase. Nur wir zwei.

Das Brummen wird lauter und als ich aus dem Fenster sehe, kann ich die Schneepflüge sehen.

»Die Straßen werden frei«, sage ich so beiläufig wie möglich zu Lila. »Die Schneepflüge sind da.«

Lila folgt meinem Blick. »Oh.«

»Ja.«

Wir schweigen, bis sie sagt: »Ich sollte wohl nach Hause.«

Mein Herz sinkt. Ich suche in meinem Kopf nach Worten, warum sie bleiben sollte … aber ich will sie nicht bedrängen.

»Wie geht es deinem Knie?«

Sie bewegt es vorsichtig. »Besser, aber nicht gut. Aber es sollte reichen …«

»Gut.«

Ich will nicht, dass sie geht, aber mir gehen die Argumente aus.

Nach dem Frühstück bricht Lila auf. Sie hat darauf bestanden, ihre Klamotten anzuziehen. Sie sind zwar trocken, aber schmutzig. Meine hat sie in ihre Tasche gepackt, weil sie nicht möchte, dass ich sie wasche.

Sie sieht wieder aus wie Lila.

Nicht wie die Frau, die in meinen Klamotten versunken ist und an meiner Schulter angelehnt geschlafen hat.

Auch wenn ich weiß, dass sie immer noch die gleiche Frau ist, macht mich das traurig.

»Danke noch mal, Tucker. Für alles. Vor allem, dass du dich so um mich gekümmert hast.«

»Jederzeit.«

»Ich meine es ernst, Tucker.« Sie sagt es, wie sie es schon einmal gesagt hat, und ich unterbreche sie.

»Du wärst nicht erfroren. Wenn es mich nicht gegeben hätte, wärst du gar nicht erst zum Festival gekommen während eines Schneesturms, und das alles wäre nicht passiert.«

»Das mag sein. Aber ich hätte nicht so schöne Tage gehabt.« Sie lacht leise.

Unsere Blicke verhaken sich.

»Lila …«

»Ja?«

Ich will ihr etwas sagen. Etwas Wichtiges, aber ich bekomme die Worte nicht von meinem Kopf über meine Lippen. Warum ist das nur so verflucht schwer?

Also sage ich: »Komm. Ich bringe dich nach Hause. Nicht, dass du mir noch verloren gehst.«

Wieder lacht sie leise und hakt sich bei mir ein, als wir das Haus verlassen.

Gemeinsam laufen wir durch die verschneiten Straßen von Silver Pines. Noch ist nicht alles geräumt, so laufen wir mitten auf der Straße, aber es ist wenig Verkehr. Die Leute warten noch ab.

Die Sonne scheint, der Himmel ist blau, und alles sieht aus wie eine Postkarte. Perfekt. Zu perfekt. Und trotzdem schaffe ich es, es einfach zu genießen.

Lila humpelt leicht, und so gehen wir langsam, nah beieinander, falls sie stolpert und ich sie halten muss.

»Es ist schön«, sagt sie irgendwann.

»Was?«

Sie breitet die Arme aus und deutet eine Drehung an. »Na, das alles. Der Schnee. Die Stadt. Es fühlt sich an wie in einem Film.«

Ich lache. »Du hast dir das gewünscht, schon vergessen?«

»Stimmt.« Sie fällt mit ein. »Ich glaube, das Universum mag mich.«

»Oder es ärgert dich.«

»Was?« Sie stemmt die Hände in die Hüften. »Wieso sollte es das?«

»Na, weil du jetzt durch den Schnee stapfen musst.«

Mit ihrem gesunden Fuß stampft sie auf die Straße. »Ach ja? Nach Schnee fühlt sich das aber nicht an.«

»Warte ab, bis wir über die Hügel klettern müssen, um zum Haus deiner Eltern zu kommen.«

Sie stößt mich an. »Du bist gemein.«

»Bin ich nicht.«

»Doch.«

»Nein.«

Wir lachen beide darüber, dass wir uns aufführen wie Kleinkinder. Aber es fühlt sich alles so leicht an. So wie früher, als es noch keine enttäuschten Erwartungen gab und es kompliziert wurde.

Immer noch lachend biegen wir in eine Seitenstraße ein, die weniger geräumt worden ist. Hier liegt der Schnee auch noch auf der Straße, beinahe unberührt. Er glitzert im Sonnenlicht. Lila bleibt stehen und erst denke ich, dass es für sie zu schwer wäre, weiterzulaufen. Aber sie breitet die Arme aus, legt den Kopf in den Nacken und sieht nach oben in die Bäume.

»Wow.«

»Was?«

»Das hier, Tucker. Schau es dir an. Es ist so perfekt.«

Ich folge ihrem Blick. Und sie hat recht.

Die Bäume sind alle schneebedeckt, die Häuser sehen aus wie aus einem Märchen, und die Stille hier ist beinahe magisch.

»Ja, das ist es.«

Lila sieht mich an und greift nach meiner Hand. »Danke, dass du mich begleitest.«

»Natürlich.«

»Tucker.« Wieder dieser Blick. »Ich meine es ernst. Du hättest mich auch einfach heimschicken können.«

»Niemals.«

Ihr Blick ruht weiter auf mir und die Leichtigkeit, mit der wir eben noch durch die Straßen gelaufen sind, ist weg. Verdrängt von einer Spannung, die so schwer und dicht auf uns liegt, dass ich nicht weiß, wie ich damit umgehen soll.

»Tucker …«

»Lila …«

Sie tritt näher an mich heran und nun trennen uns nur noch wenige Zentimeter. Ihr Mund ist leicht geöffnet, ihr Atem bildet kleine Wölkchen in der kalten Luft. Lila befeuchtet ihre Lippen. Sie kommt noch einen Schritt näher. Oder bewege ich mich auf sie zu? Ich weiß es nicht. Nur, dass ich ihre Wärme spüren kann.

»Tucker«, flüstert sie. »Ich …«

»Lila, ich muss dir was sagen.«

»Was?«

Ich atme tief ein und weiche ihrem Blick aus.

»Ich will nicht, dass du gehst.«

Sie blinzelt. »Was?«

»Nach Hause. Ich will nicht, dass du gehst. Ich … ich weiß, das klingt total verrückt, aber die letzten beiden Tage … du und ich … sie waren …«

»Perfekt«, beendet sie meinen Satz.

»Ja.«

»Für mich auch.«

Mein Herz stolpert. »Wirklich?«

»Ja.« Sie lächelt, aber ihre Augen glänzen. »Tucker, ich … ich habe so viel Angst.«

Ich runzele meine Stirn. »Wovor?«

Sie tritt einen Schritt zurück, hebt ihre Arme und lässt sie wieder fallen. »Dass ich das hier kaputtmache. Dass ich wieder gehe. Dass ich dich wieder enttäusche.«

Ich lege meine Hände auf ihre Schultern. »Lila, du kannst mich nicht enttäuschen.«

»Doch. Das habe ich doch schon mal getan. Was sagt dir, dass es mir nicht noch einmal passiert?«

»Das war die Vergangenheit. Das ist jetzt.«

»Aber …«

»Lila.« Ich sehe sie an, fixiere sie mit meinem Blick. »Ich will nicht über damals reden, sondern über jetzt. Und jetzt … jetzt will ich das hier.«

»Was ist aber das hier?«, fragt sie, und sie mich so verzweifelt an, dass ich schlucke.

»Dich. Mich. Uns.« Mehr Worte habe ich nicht.

Sie zieht den Atem scharf ein.

»Tucker …«

Der Kloß in meinem Hals ist riesig, aber ich muss ihr sagen, was ich fühle. Was ich denke, sonst … läuft sie vielleicht wieder weg.

»Ich weiß, dass du Angst hast. Ich habe auch Angst. Aber …« Ich zögere. »Aber ich will es trotzdem versuchen. Mit dir.«

Tränen steigen in ihre Augen. »Wirklich?«

»Ja.«

Sie umfasst meine Hände und zieht sie von ihren Schultern. »Auch wenn ich nicht weiß, ob ich bleiben kann? Oder was die Zukunft bringt?«

»Auch dann.«

Lila schließt die Augen und eine Träne rollt über ihre Wange, die ich ihr vorsichtig wegwische.

»Hey«, flüstere ich. »Nicht weinen, hörst du?«

Sie lacht und sieht mich an, während weitere Tränen über ihre Wangen rollen. »Entschuldige, ich … ich bin einfach …« Wieder schließt sie die Augen und wendet sich ab. Mein Herz rast. Ich habe keine Ahnung, was sie sagen wird, aber ich will meine Ängste nicht gewinnen lassen. Sie muss doch auch fühlen, was ich fühle, oder? Sonst wären die letzten Tage nicht so … so schön gewesen, oder? Hat sie sich nur so verhalten, weil es nicht …

»Glücklich.« Sie dreht sich wieder zu mir. »Ich bin glücklich.«

Alle meine Gedanken werden von meinem explodierenden Herz eliminiert. Ich sehe nur noch in ihr strahlendes Gesicht und lasse die Worte in meinem Kopf nachhallen.

»Ich auch.«

Wie im Park weiß ich wieder nicht, wer sich zuerst bewegt. Vielleicht ich, aber vielleicht ist es auch Lila, die sich auf die Zehenspitzen stellt. Ihr Knie versucht sie dabei zu entlasten, weshalb ich sie festhalte, und dann sind plötzlich ihre Lippen auf meinen.

Weich, warm, perfekt und so, wie ich sie in Erinnerung behalten habe.

Ich ziehe sie näher an mich heran und sie legt ihre Hände in meinen Nacken, um mein Gesicht näher an ihrem zu haben.

Unser Kuss … er … ist alles.

Voller Zärtlichkeit und gleichzeitig liegt all die Verzweiflung der letzten Jahre darin. Die Hoffnung, die sich aufgebaut hat, und die Ängste, dass alles wieder vorbei sein könnte, ehe es richtig beginnt. Ein Kuss voller Vergangenheit und Zukunft. Alles, was ich je gewollt habe.

Ein Kuss, der niemals enden soll, aber es schließlich tut, und wir atmen beide schwer, als wir uns voneinander lösen.

Lila sieht mich an, ihre Augen weit, die Wangen gerötet.

»Wow«, haucht sie, und ich kann nicht anders, als die Worte zu wiederholen.

Sie lacht. »Das war …«

»… längst überfällig«, platzt es aus mir heraus und sie lacht.

»Das auch.« Sie lehnt ihre Stirn gegen meine. »Aber noch mehr als das, war dieser Kuss einfach perfekt.«

»Ja. Das war er.«

Wir bleiben einfach so stehen. In dieser Umarmung, in dieser Seitenstraße, die so ruhig ist, als wäre das Leben einfach einen Moment stehengeblieben. Für uns. Damit wir diesen perfekten Augenblick erleben dürfen. Am liebsten würde ich sie für immer anhalten. Irgendwann sagt Lila: »Ich glaube, ich sollte jetzt nach Hause gehen, sonst denken meine Eltern noch, dass mir was passiert ist. Mein Akku ist schließlich leer.«

»Ich weiß …«

»Aber, ich sehe dich später? Auf dem Festival?«

Ich schüttele den Kopf und Enttäuschung spiegelt sich in ihrem Gesicht.

»Das Festival werden wir heute noch nicht eröffnen können. Erst mal muss ich schauen, ob es Schäden gab, und mit so viel Schnee … Da kann man die Hütten nicht öffnen. Wir müssen es erst wieder herrichten.«

»Oh. Richtig, ja.«

»Aber«, sage ich schnell, »wir können jede helfende Hand gebrauchen, also, wenn du Lust hast … und wenn dein Knie es zulässt … komm doch auch.«

»Wirklich?« Ihr Gesicht erhellt sich.

»Ja«, sage ich lachend. »Aber nur, wenn du dich ausruhst. Und Eis auf dein Knie packst und Schmerzmittel nimmst.« Ich hebe einen Finger. »Und nur, wenn es wirklich geht! Du sollst dich nicht überanstrengen.«

»Du Tyrann.« Sie grinst mich an.

»Immer, du kennst mich.«

Lila küsst mich statt einer Antwort noch einmal.

Kurz und süß.

Dann geht sie.

Und ich stehe in dieser verschneiten Straße, sehe ihr nach und grinse wie ein Vollidiot.

Als ich sie am Abend auf dem Festivalplatz wiedersehe, flattert mein Magen vor Freude. Ich hatte gehofft, dass sie kommt, und da ist sie. Mit ihrer Bandage am Knie, aber mit einem Lächeln im Gesicht.

Und ich sehe, wie ihre Augen aufleuchten, als sie mich sieht.

»Hi.« Sie winkt mir zu, als sie näher kommt.

»Hi.«

»Schon dabei, das Festival zu retten?«, fragt sie.

»Ja, aber mit dir an meiner Seite wird es mir auch gelingen.«

Und zum ersten Mal seit langer Zeit fühlt sich alles wieder richtig an.

Nur noch 8 Tage bis Weihnachten. Was auch immer kommt, ich werde es gemeinsam mit Lila schaffen.

Endlich, oder? Was denkt ihr? Dieser Kuss zwischen Lila und Tucker war wirklich … längst überfällig. Da muss ich Tucker zustimmen.

Ach, ich liebe es. Hoffentlich können sie es genießen.

Rockt on, Rockeronies

eure

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