Allgemein

Adventskalender Türchen 20

Lila

20.12.2025

Komisch. Ich zerwühle mein Bett. Suche auf dem Nachttisch und dem überfüllten Schreibtisch, der in der Ecke meines alten Kinderzimmers steht. Zwischen und in den Klamotten, die ich achtlos auf den Boden geworfen habe. An der Steckdose. In meiner Tasche. Aber mein Handy finde ich nicht. Selbst unter dem Bett nicht, nur einen Haufen Staubmäuse, die sich hier zu einer Weihnachtsparty getroffen haben.

»Mom?« Ich laufe die Treppe nach unten in die Küche. Vielleicht habe ich es auch da hingelegt, als ich nach Hause gekommen bin? Oder in meiner Manteltasche? »Hast du mein Handy gesehen?«

Sie kommt aus dem Atelier, als ich die Küche betrete, Farbe an den Händen – sie ist mitten beim Malen. Dad ist schon früh los heute Morgen, irgendein Meeting, ich weiß es nicht mehr.

»Nein, Zuckerfee. Wo hattest du es denn zuletzt?«

Ich überlege. »Ich … ich weiß es nicht. Ich dachte, ich hätte es gestern noch gesehen, aber …« Und dann fällt es mir ein.

Tucker.

Bei Tucker habe ich es zuletzt benutzt und das ist schon vor vier Tagen gewesen. Seit wann sehe ich so selten auf mein Handy?

Seit du in Silver Pines bist, ist es dir nicht mehr so wichtig. Und das stimmt. Ich habe es viel weniger benutzt, Social Media fast gar nicht mehr benutzt, und jetzt? Jetzt habe ich fast vergessen, dass ich es überhaupt habe.

»Nach dem Blizzard«, sage ich zu meiner Mom, die mich noch immer wartend ansieht. »Als ich bei Tucker Unterschlupf gefunden habe, wollten wir es laden, weil der Akku irgendwann leer war, aber wir hatten ja keinen Strom …« Und dann … habe ich es bei ihm vergessen. »Scheiße«, murmele ich.

Meine Mom hebt eine Augenbraue. »Lila Monroe, Sprache.«

Ich grinse, weil sie diesen Mom-Modus noch immer so gut draufhat.

»Sorry, Mom. Ich werde mal zu Tucker rübergehen und sehen, ob er da ist, damit ich es abholen kann.« Ich hebe die Hände. »Anrufen geht ja leider nicht.«

Außerdem weiß ich nicht mal, ob ich seine Nummer noch habe.

Ich schlüpfe in meinen Mantel, wickle mir einen Schal um den Hals, und als ich das Haus verlasse, ist es sehr kalt draußen, aber die Sonne scheint. Es liegt immer noch Schnee, auch wenn alle Wege geräumt sind. Jetzt ist Silver Pines das Wintermärchen, das man sich immer vorstellt.

Meine Hände vergrabe ich tief in den Taschen meines Mantels und ich genieße die Sonne auf meiner Haut. Sie entlockt mir ein Lächeln, auch wenn mein Atem kleine Wölkchen in der Luft bildet, während ich zu Tuckers Haus laufe. Hier und da grüße ich jemanden und merke, ich fühle mich wohl. Die Enge, die Silver Pines früher immer für mich bedeutet hat, ist weg. Ich mag es, hier zu sein, und mein Lächeln wird breiter.

Je weiter ich laufe, desto mehr erinnert mich mein Knie daran, warum ich wieder hier bin. Aber es geht. Die Schmerzen sind erträglich. Je näher ich jedoch Tuckers Haus komme, desto mehr muss ich an gestern Abend denken.

Er war so … anders. Distanziert und verkrampft. So kenne ich ihn nicht. Er war nicht einmal so, kurz nachdem ich hier angekommen bin. Er hat gesagt, er ist müde, aber das kann ich ihm einfach nicht glauben. Ich bin mir sicher, dass irgendetwas nicht stimmt, und ich habe keine Ahnung, was es sein könnte. Mein Magen zieht sich zusammen, denn ich habe Angst, dass es mit mir zu tun hat.

 

Als ich bei Tucker ankomme, schiebe ich das Gefühl zur Seite.

»Bestimmt ist er heute wieder besser drauf«, rede ich mir ein und schlucke, als ich seinen Truck in der Einfahrt stehen sehe. Gut. Er ist zu Hause.

Ich klopfe an die Tür.

Warte und lausche.

Aber nichts.

Ich klopfe nochmal, dieses Mal lauter.

»Tucker? Bist du da?«

Als ich erst mal wieder nichts höre, sehe ich mich um. Vielleicht ist er in der Werkstatt? Doch das Tor ist zu und Licht kann ich nicht erkennen. Endlich höre ich Schritte.

Die Tür öffnet sich.

Tucker steht vor mir, in einer zerrissenen Jeans und einem alten Flanellhemd. Die Haare zerzaust. Er sieht müde aus. Sogar mehr als das. Erschöpft. Als würde er die Last der Welt auf seinen Schultern tragen.

»Lila«, sagt er, und in seiner Stimme liegt keine Freude, einfach nichts. »Hi.«

»Hi.« Ich verknote meine Hände ineinander. »Ich … es tut mir leid, dass ich einfach so reinplatze, aber ich glaube, ich habe mein Handy hier vergessen? Nach dem Blizzard.«

Tucker zögert. Nur für den Bruchteil einer Sekunde, aber ich sehe es.

»O ja. Ich … ich habe es gefunden.«

»Wirklich?« Erleichterung durchflutet mich. »Wo war es?«

»In der Küche. Angeschlossen an die Steckdose.«

»Na klar.« Ich schlage mir die Hand gegen die Stirn. »Wir wollten es ja laden.« Ich lache nervös. »Ich bin wirklich so vergesslich manchmal.«

Als ich Tucker ansehe, lächelt er nicht, sondern nickt nur. »Komm rein. Ich hole es dir.«

Ich trete den Schnee von meinen Schuhen, ehe ich eintrete und sie ausziehe. Tucker ist schon in der Küche verschwunden. Weil ich nicht weiß, was ich machen soll, bleibe ich, wo ich bin. Der Flur … alles sieht hier normal aus, aber alles, wirklich alles, fühlt sich falsch an. Mein Magen grummelt. Als Tucker zurückkommt, hat er mein Handy in der Hand.

»Hier.«

»Danke.« Ich nehme es entgegen, sehe auf das Display, ehe ich seinen Blick wiederfinde und schwach lächle. »Ich hätte dich angerufen, aber naja … so ohne Handy.«

»Ist okay.«

Ich weiß nicht mehr, was ich sagen soll, und Tucker will augenscheinlich nicht reden. Also stehen wir schweigend da. Es ist so unangenehm. Ich will etwas sagen, aber ich weiß nicht, wie ich anfangen soll.

»Tucker?«, frage ich schließlich und warte, bis er mich wieder ansieht.

»Ja?«

»Ist wirklich alles okay? Du bist so … keine Ahnung, aber seit gestern bist du so anders.«

Er weicht meinem Blick aus, zieht den Ärmel an seiner Jacke nach unten, die an der Garderobe hängt.

»Ich habe nur viel um die Ohren. Ganz normal im Dezember. Das Festival, die Werkstatt, alles.«

»Bist du sicher?« Ich kann einfach nicht glauben, dass das alles sein soll. Von heute auf morgen, nach der Nacht … und dem Abschied in der Straße.

»Ja.« Tucker sieht mich an und sein Blick ist so leer, dass mir übel wird. »Ich bin sicher.«

Ich nicke, aber ich glaube ihm nicht.

»Okay, mein Angebot steht. Wenn du reden willst, du weißt, wo du mich findest, okay?«

»Ich weiß.«

Ich würde ihn so gern umarmen. Ihn küssen. O Gott, was sehne ich mich nach einem Kuss von ihm. Aber ich weiß, dass es nicht richtig wäre. Diese Distanz zwischen uns fühlt sich an wie eine unsichtbare Mauer.

»Ich gehe dann mal«, sage ich schließlich, als die Stille schon wieder in meinen Ohren dröhnt.

»Okay.«

Tucker bringt mich zur Tür und als ich in meine Schuhe geschlüpft bin, greife ich nach seiner Hand. Ich muss einfach seine Haut spüren. »Sehen wir uns heute Abend? Auf dem Festival?«

»Ja. Bis dann.« Er geht einen Schritt nach hinten und ich muss ihn loslassen.

Ohne ein weiteres Wort gehe ich, mein Herz so schwer, dass ich mit den Tränen kämpfe. Es stimmt etwas nicht. Jetzt kann ich mir das nicht mehr schönreden. Aber ich weiß einfach nicht, was es sein könnte.

 

Zu Hause schaffe ich es auf mein Zimmer, ohne dass Mom oder Dad mich bemerken. Ich muss alleine sein. Verarbeiten, was ich da gerade erlebt habe. Ich werfe mein Handy auf mein Bett und das Display leuchtet auf.

Verpasste Anrufe?

Ich klicke auf die Nachricht und sehe, dass ich sogar 12 verpasste Anrufe habe und fünf Nachrichten.

Erst denke ich, dass sich vielleicht Freundinnen aus New York gemeldet haben, doch schnell wird mir klar: Alles kommt von der gleichen Nummer. NYC Ballet School.

Mein Herz stolpert und ich starre einfach nur auf diese Nummer.

Meine alte Ballettschule, in der ich meine Ausbildung in New York gemacht habe. Ich habe seit einiger Zeit nichts mehr von ihnen gehört, schon gar nicht, seit meinem …

Was wollen sie jetzt von mir?

Ausgerechnet jetzt?

Meine Finger zittern, als ich die Sprachnachrichten eine nach der anderen anklicke.

»Hallo Lila, hier ist Rebecca von der NYC Ballet School. Ich würde dich gern sprechen, ruf mich doch mal zurück.«

»Lila, hier ist noch mal Rebecca. Es ist wirklich wichtig. Bitte melde dich.«

»Lila, ich habe mit Tucker Boone gesprochen und von dem Schneesturm gehört. Er hat gesagt, er richtet dir aus, dass wir gesprochen haben. Bitte ruf doch mal zurück, sobald du mit ihm gesprochen hast und diese Nachricht hörst.«

Das Handy rutscht aus meiner Hand und fällt auf die Bettdecke.

Tucker.

Tucker hat mit Rebecca gesprochen?

Wann? Und warum hat er mir nichts davon gesagt?

Ich hebe das Handy hoch und klicke auf die Nummer der Ballettschule. Es klingelt ein paar Mal, ehe sich Rebecca meldet: »NYC Ballet School, Rebecca Walsh.«

»Hi, hier ist Lila. Du hast versucht, mich zu erreichen?«

Ich kenne Rebecca schon einige Zeit, sie hat mir bei meiner Ankunft in New York damals sehr geholfen. Sie ist neben der Leiterin der Schule eine der wichtigsten Bezugspersonen für die angehenden Tänzerinnen und Tänzer.

»Lila!« Sie klingt so erleichtert, dass sich mein Puls beschleunigt. »Danke, dass du dich meldest. Wir haben ein Angebot für dich.« Ich kann ihr strahlendes Lächeln vor mir sehen, aber ich bin verwirrt.

»Ein Angebot?«

»Ja! Ich weiß nicht, ob du noch Rose McCarthy kennengelernt hast?« Ich schüttele den Kopf, aber bemerke zu spät, dass sie es nicht sehen kann. Es ist auch egal, denn sie spricht weiter. »Sie war für das Fortgeschrittenenprogramm an der Schule zuständig und muss jetzt leider aufhören. Wir suchen eine Nachfolgerin und haben sofort an dich gedacht.«

Ich lege eine Hand auf meine Brust. Kann für einen Moment nicht atmen und nichts sagen.

»Lila?«

Ich räuspere mich. »Ballettlehrerin?«

»Genau. Eine Festanstellung, sehr gutes Gehalt, Krankenversicherung, Altersvorsorge, alles inklusive«, rattert sie herunter. »Du würdest wieder Teil unserer Community sein, hier in New York, Lila. Wir vermissen dich.«

Ich blinzele gegen die Tränen an, die mir in die Augen steigen.

»Ich … ich weiß gar nicht, was ich sagen soll.«

»Nichts. Denk erst mal in Ruhe darüber nach. Das kommt ja alles sehr überraschend.« Sie zögert einen Moment. »Wir bräuchten eine Antwort allerdings bis zum 23. Dezember, weil der neue Kurs im Januar startet … Bekommst du das hin?«

»Anfang Januar?«

»Ja, ich weiß. Das ist sehr kurzfristig, aber ich hoffe wirklich, dass du vielleicht interessiert bist.«

»Ich denke darüber nach.« Im Moment wüsste ich nicht mal mehr, wie ich meinen Namen buchstabiere.

»Sehr schön. Melde dich einfach bis zum 23., wenn du eine Entscheidung getroffen hast.«

»Das mache ich. Danke, Rebecca.«

»Gern geschehen, Lila. Du bist wirklich unsere erste Wahl. Ich freue mich, von dir zu hören.«

Damit lege ich auf und ich habe keine Ahnung, wie lange ich mit dem Handy in der Hand einfach auf meinem Bett sitze.

In meinem Kopf dreht sich alles.

New York. Meine alte Schule.

Ballettlehrerin.

Mit einer Festanstellung, an einem Ort, der für mich alles bedeutet hat. Wo ich mich so wohlgefühlt habe.

Schon Anfang Januar.

Das ist … die zweite Chance, auf die ich nicht zu hoffen gewagt hatte.

Ich könnte wieder Teil der Welt sein, die alles für mich ist. Auch wenn ich nicht mehr so tanzen kann, wie ich es früher getan habe – ich könnte es ein bisschen machen. Und wieder in New York leben. In meiner alten Wohnung, die ich noch nicht aufgegeben habe. Die Entscheidung, was ich damit mache, muss ich an Weihnachten treffen. Deswegen mein Countdown, von dem ich niemandem erzählt habe.

Meine alten Freunde.

Wieder Teil der wunderschönsten Ballett-Community. Anderen dabei helfen, ihre Träume zu leben.

Aber …

Tucker.

Was ist mit Tucker?

Mein Herz schmerzt, wenn ich an ihn denke, doch dann fällt es mir wieder ein: »Ich habe mit Tucker Boone gesprochen.«

Er hat es gewusst. Er hat von dem Angebot gewusst. Und er hat es mir nicht gesagt.

Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Ich weiß nur, dass es wehtut. Weil er mir diese wichtige Nachricht verschwiegen hat – von der er weiß, was sie mir bedeutet.

Das hätte er früher nie getan.

 

An diesem Abend gehe ich nicht auf das Winterlights Festival, sondern sitze am Abend auf meinem Bett, sehe auf die Lichter an den Häusern auf der anderen Straßenseite und grübele. Über das Angebot. Über meine Zukunft. Tucker.

Zwei Fragen wechseln sich dabei immer wieder ab:

Was soll ich tun?

Und: Warum hat Tucker mir nichts gesagt?

In 3 Tagen läuft das Angebot der Ballettschule ab und in 5 Tagen ist Weihnachten.

Ich dachte, ich wüsste, wie meine Zukunft aussieht, doch ein Anruf hat alles wieder durcheinandergebracht.

Ich starte bei null und weiß nicht, was passieren wird.

Nun weiß Lila bescheid. War ja nur eine Frage der Zeit … Und dass sie nicht auf das Festival geht, wird Tucker verräten, dass er aufgeflogen ist. 

Ob sie nun noch mal zusammenfinden? 

Morgen geht es weiter, meine Rockeronies und bis dahin: Rockt on!

Eure

Leave a Reply

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

WordPress Cookie Hinweis von Real Cookie Banner