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Adventskalender Türchen 21

Tucker

21.12.2025

Lila war nicht beim Festival gestern Abend. Sie war immer da. Jeden Abend, egal wie kalt es war, ob ihr Knie geschmerzt hat oder ob das Wetter schlecht war. Aber gestern … Sie ist nicht gekommen. Ich weiß, was das heißt.

Den ganzen Abend habe ich nach ihr Ausschau gehalten, konnte mich fast nicht konzentrieren, weil ich erwartet habe, sie zu sehen. Wütend vielleicht. Verletzt. Oder enttäuscht. Aber dass sie nicht gekommen ist, ist kein gutes Zeichen. Ich weiß, warum.

Sie hat ihr Handy wieder und sie weiß es. Sie muss all die Anrufe gesehen haben und die Nachrichten. Bestimmt hat sie längst mit Rebecca gesprochen und alles erfahren. Und jetzt … jetzt meidet sie mich.

Ich kann es ihr nicht mal verübeln. Schon gar nicht, nachdem ich mich auch noch so ätzend verhalten habe.

Nichts wollte ich mehr, als sie zu küssen und in den Arm zu nehmen. Aber wie kann ich das machen, wenn ich weiß, dass sie sowieso wieder nach New York gehen wird? So ein Angebot, das kann sie nicht ablehnen. Lila wird nicht mehr auf der Bühne stehen können. So viel habe ich verstanden, aber Tanz ist ihr Leben. Sie wäre dumm, das Angebot nicht anzunehmen, oder?

Dass sie nicht da war, zeigt mir, dass sie sich für New York entschieden hat. Und ich muss damit klarkommen. Ein weiteres Mal.

»Du bist eben ein verliebter Idiot, dass dir das gleich zweimal passiert. Selbst schuld«, murmele ich.

Der Tag wird zum längsten meines Lebens, dabei ist er noch nicht mal viele Stunden alt. Nicht, weil viel passiert, sondern weil eben einfach nichts passiert.

Irgendwann verziehe ich mich in meine Werkstatt, weil ich keine weitere Runde um den Esstisch laufen will. Ich starre auf ein Stück Holz, das ich eigentlich bearbeiten wollte. Irgendein Ornament oder was auch immer für das Festival.

Aber ich mache nichts. Meine Hände liegen in meinem Schoß und mein Kopf ist woanders.

Bei Lila.

Und bei dem verfluchten Handy, das ich ihr gestern zurückgegeben habe. Viel zu spät! Dafür könnte ich mich ohrfeigen. Verdammte Angst, sie zu verlieren. Jetzt passiert es erst recht und ich kann ihr nicht mal böse sein. Ich würde auch gehen, wenn sie mich so belogen hätte. Wie konnte ich nur verschweigen, dass ich mit New York gesprochen habe?

Ich stütze meinen Kopf in meine Hände, fahre mir durch die Haare und stöhne. Ich bin echt gut darin, beschissene Situationen noch beschissener zu machen.

Bestimmt hat sie mit wehenden Fahnen dem Angebot von dieser Rebecca zugesagt und packt gerade ihre Koffer. Bleibt sie dann überhaupt noch bis zum 25.? Mir wird heiß und kalt, bei der Vorstellung, dass sie einfach verschwinden könnte. So wie damals.

»Das kommt davon, wenn man zu feige ist, jemandem die Wahrheit zu sagen, Boone«, schimpfe ich, stehe auf und laufe in der Werkstatt auf und ab. War es nicht das, was ich nicht mehr machen wollte?

Ich zittere am ganzen Körper und der Gedanke, dass Lila gerade auf dem Rückweg nach New York sein könnte, verursacht nicht nur einen Kloß in meinem Hals. Mir ist kotzübel. Ich sollte sie anrufen. Oder noch besser: zu ihr gehen.

Ich sollte ihr sagen, dass ich weiß, dass sie ein Angebot aus New York bekommen hat, und ich sollte mich bei ihr entschuldigen.

Aber es geht nicht.

Statt aus meiner Werkstatt nach draußen zu stürmen, laufe ich weiter im Kreis.

Was, wenn sie mir ins Gesicht sagt, dass sie nach New York geht und schon zugesagt hat? Was, wenn sie mich ansieht und sagt: Wenn du mir vertraut hättest, wäre das nicht passiert? Ich raufe mir die Haare. Was, wenn es so zu Ende geht? Dieses Mal für immer?

Als es an der Tür der Werkstatt klopft, zucke ich zusammen. Ich habe heute eigentlich keine Kundentermine. Lila?

Aber als ich öffne, steht Claire vor der Tür. Sie hat zwei Kaffeebecher in der Hand und einen besorgten Gesichtsausdruck. So hat sie mich schon gestern auf dem Festival angesehen, aber wegen der vielen Besucher hatte sie keine Gelegenheit, mich anzusprechen. Das holt sie wohl hiermit nach. Ich seufze innerlich, denn Claire ist hartnäckig, wenn sie sich an etwas festgebissen hat, und ich bin leider immer wieder einer ihrer Kandidaten.

»Hi«, sagt sie.

»Hi.«

»Störe ich dich? Oder darf ich reinkommen.«

Ich trete zur Seite und mache eine einladende Geste. »Komm gern rein.«

Sie reicht mir einen Becher des Kaffees. »Schwarz, so wie du ihn magst.«

»Danke.«

Sie stellt ihren auf die Werkbank und schlüpft aus ihrem Mantel. Das wird wohl ein längerer Besuch. Sie setzt sich auf einen Hocker und ich nehme auf einer Bank gegenüber Platz.

Dann schweigen wir. Und ich weiche Claires Blick aus, der mich ununterbrochen mustert, nur ab und an abschweift und über die Werkstatt gleitet.

»Du siehst scheiße aus«, sagt sie irgendwann.

Ich lache kurz, ohne Humor. »Danke.«

»Ist die Wahrheit. Du kennst mich, ich sage immer die Wahrheit.« Sie dreht sich zu mir. »Was ist los mit dir, Tucker Boone?«

»Nichts.« Ich sage es so schnell, dass es offensichtlich ist, dass ich lüge.

»Lüg mich nicht an.«

»Claire …« Ich seufze.

»Tucker.« Ihre Stimme wird weicher. »Ich kenne dich, seit wir laufen können. Und ich sehe, wenn was nicht mit dir stimmt. Es ist Lila, oder?« Ich hasse es, dass sie immer weiß, wie es in mir aussieht. Als wäre sie nicht nur eine gute Freundin, sondern meine Schwester. Eigentlich komisch, dass wir nie … Ich schüttle den Kopf. Worüber denke ich hier nach? »Also, erzähl mir, was ist los?«, spricht Claire weiter.

Ich starre in meinen Kaffee. Ich will es ihr nicht sagen. Ich kann es ihr nicht sagen, und doch, da ist dieses Stimmchen in meinem Kopf, das mir zuflüstert, dass es hilft, wenn man mit jemandem redet.

»Ja, es ist wegen Lila«, platzt es aus mir heraus, und ich erzähle ihr alles. Was mit mir los ist, seit sie wieder hier ist. Unserem Kuss. Ihrem Handy. Dem Anruf aus New York und was es damit auf sich hat. Dass ich es ihr nicht gesagt habe. Als ich fertig bin, hebe ich nur kurz den Blick, um Claire anzusehen. Sie hat die Lippen zusammengepresst und schweigt.

Lange.

Zu lange.

So lange, dass ich weiß, dass ich wirklich richtig Scheiße gebaut habe.

»Sag was«, bitte ich sie.

»Du hast es ihr verschwiegen?«

»Ja.«

»Drei Tage lang?«

»Ja.« Es immer wieder sagen zu müssen und laut ausgesprochen zu hören, macht es nicht besser. Jede Wiederholung ist ein Stich in mein Herz.

»Was hast du dir nur dabei gedacht, Tucker?«

Sie lehnt sich nach vorne und greift nach meiner Hand, die auf meinem Knie liegt.

»Ich hatte Angst.« Keine Ahnung, wieso ich zu ihr so ehrlich sein kann und nicht zu Lila.

»Wovor?«

»Dass sie geht!« Ich stelle den Kaffee ab und stehe auf. »Dass sie Ja sagt und in zwei Wochen weg ist! Dass ich sie schon wieder verliere, wie vor zehn Jahren.«

»Und da dachtest du, es ihr nicht zu sagen, macht es besser?«

»Ich …« Wieder raufe ich mir die Haare. »Ich wollte doch nur noch ein paar Tage. Ein paar Tage, in denen ich so tun kann, als wäre alles gut.«

Claire steht auf und tritt zu mir. »Tucker. Du kannst nicht so tun, als wäre alles gut. Schau dich doch mal an. Das ist schon lange nicht mehr gut.«

»Ich weiß«, gebe ich zu und verschränke die Arme hinter meinem Kopf.

»Weißt du, was du damit getan hast?« Ich sehe sie an. »Du hast ihr nicht vertraut. Sie hat dir doch gesagt, dass sie für euch kämpfen will, aber du hast es ihr nicht geglaubt.«

»Doch! Das habe ich!«

Sie hebt beide Augenbrauen. »Wenn dem so wäre, dann hättest du ihr das Handy gegeben und von dem Anruf erzählt.«

Ich schließe die Augen und seufze. Sie hat recht. Natürlich hat sie recht und eigentlich weiß ich das. Verdammt.

»Was mache ich jetzt?«

»Ihr die Wahrheit sagen?«

»Aber was, wenn sie mich hasst?«

»Dann hasst sie dich, Tucker.« Claire legt eine Hand auf meinen Unterarm. »Aber dann kannst du wenigstens in den Spiegel gucken und sagen, dass du ehrlich warst. Und vielleicht … vielleicht versteht sie dich ja, wenn man eure Geschichte bedenkt. Und verzeiht dir.«

»Und wenn nicht?«, flüstere ich.

»Dann hast du sie trotzdem verloren, Tucker. Aber dann ist es nicht, weil du gelogen hast.«

 

Nachdem Claire gegangen ist, sitze ich weiter allein in der Werkstatt. Ihre Worte hallen in mir nach. Ich muss Lila die Wahrheit sagen. Darin hat Claire recht. Und ich weiß das. Aber ich kann es einfach nicht. Noch nicht. Ich brauche noch … einen Tag. Oder zwei? Keine Ahnung. Ich möchte wenigstens noch ein bisschen so tun, als wäre alles okay, bevor es über mir zusammenbricht.

Als es dämmert und ich eigentlich auf dem Weg zum Winterlights Festival sein müsste, schicke ich Tom eine Nachricht.

›Bin krank, kannst du für mich am Stand einspringen?‹

In all den Jahren, in denen es das Festival gibt, ist das noch nie vorgekommen.

Es dauert nicht lange, bis er schreibt: ›Klar, alles okay? Brauchst du was?‹

›Ja, alles gut, ich brauche nichts, ist nur eine Erkältung. Morgen sicher schon besser.‹

Noch eine Lüge. Das bin ich nicht. Ich lüge Menschen nicht an, ich breche keine Versprechen, und doch tue ich es jetzt andauernd.

Aber ich kann einfach nicht zum Festival gehen. Nicht heute. Nicht, wenn Lila vielleicht da sein wird und sie mich dann mit diesem Blick ansieht, der mich gestern schon so fertig gemacht hat. Diesem Blick, der mir sagt, dass sie mich durchschaut, dass sie weiß, dass etwas nicht stimmt. Ich bin ein Feigling. Das weiß ich. Aber ich kann ihr noch nicht unter die Augen treten, nicht in diesem Zustand.

Also bleibe ich zu Hause und gehe von der Werkstatt in mein Haus. Dusche. Esse, aber es schmeckt nach Pappe, und sitze auf meinem Sofa. Der Fernseher läuft, aber ich weiß nicht, worum es geht, denn ich starre die Decke an.

Mein Handy liegt auf dem Sofa.

Stumm.

Lila meldet sich nicht.

Ob sie mich wohl beim Festival gesucht hat? Und enttäuscht war, dass ich nicht da bin? Aber was, wenn sie froh ist, dass ich nicht da bin?

Ich vergrabe meinen Kopf in meinen Händen und stöhne. In was für eine Scheiße habe ich mich da geritten?

 

Ich schrecke vom Sofa auf, als es an meiner Tür klopft. Sehe auf die Uhr. Fast 10. Wer könnte das sein?

Lila! Sie muss es sein, auch wenn ich Angst habe, sie zu sehen.

Ich springe auf, falle beinahe, als ich zur Tür eile.

Doch als ich sie aufmache, finde ich Tom und nicht Lila.

»Hey«, sagt er. »Ich wollte nur mal vorbeischauen. Du hast noch nie einen Tag vom Festival verpasst. Wie geht es dir?«

»Gut«, sage ich.

»Wirklich?« Er mustert mich. »Du siehst alles andere als gut aus.«

»Danke, du bist nicht der erste, der mich heute darauf hinweist.«

»Lässt du mich rein?«

Ich trete zur Seite. Unangekündigte Besuche scheinen heute im Trend zu sein.

Tom zieht die Schuhe aus und schlüpft aus seiner Jacke.

»Willst du was trinken?«, frage ich ihn.

»Nein, danke.« Er lässt sich auf das Sofa fallen und sieht mich ernst an. »Was zur Hölle ist los mit dir, Tucker?«

»Nichts, ich bin nur erkältet.« Wie zur Bestätigung meiner Aussage, huste ich. Shit, das klingt so künstlich wie meine Lüge.

»Bullshit«, sagt Tom direkt.

Ich seufze. »Tom …«

»Lila war heute auf dem Festival. Sie hat nach dir gefragt.«

Mein Herz stolpert und ich setze mich. »Was … was hat sie gesagt?« Ich weiß nicht, ob ich es hören will.

»Dass sie dich vermisst. Und sie sich Sorgen macht.« Er lehnt sich ein Stück zu mir. »Ich habe keine Ahnung, was bei euch los ist, aber rede mit ihr, Boone.«

»Das sollte ich, ja.«

»Dann mache es, verdammt.«

»Ich kann nicht.«

»Warum?«

Und zum zweiten Mal an diesem Tag muss ich mein Herz offenlegen. Nur nicht bei der Person, bei der ich es tun sollte. »Weil …« Ich fahre mir durch die Haare. »Weil ich Angst habe, Tom. Du weißt, was vor zehn Jahren passiert ist.«

»Jap. Ich habe heute noch einen Kater.«

Ich seufze, während er lacht.

Damals hat er mich aufgefangen und wir sind nicht nur an einem Abend in irgendeiner Bar versackt und haben zu viel getrunken.

Als er sich beruhigt hat, sieht er mich lange an.

»Angst ist okay, Tucker, aber weißt du, was scheiße ist? Wegrennen.«

»Ich renne doch nicht weg!« Das tut ja wohl eher Lila, aber ich sage es nicht.

»Doch, tust du.« Er steht auf. »Vielleicht nicht physisch, aber du rennst trotzdem vor ihr weg und vor der Wahrheit. Einfach vor allem.«

Ich sage nichts mehr. Was soll ich dazu auch sagen? Mein Freund hat recht.

 

Als Tom geht, sitze ich wieder auf dem Sofa und starre die Decke an.

Claires und Toms Worte hallen jetzt durch meinen Kopf, wie eine Platte, die einen Sprung hat.

Sag ihr die Wahrheit.

Du rennst weg.

Ich greife nach meinem Handy und scrolle durch meine Kontakte, bis ich bei Lilas Namen hängenbleibe.

Ich könnte einfach auf Anruf klicken. Mit ihr sprechen. Jetzt. Es einfach erzählen, ohne sie dabei anzusehen. Es wäre so einfach. Mein Finger schwebt über dem Button, doch dann lege ich das Telefon wieder weg.

Morgen. Ich mache das morgen. Versprochen.

 

Irgendwann döse ich weg, während der Fernseher stumm weiterflimmert. Ich träume wirre Sachen, renne vor Lila weg, renne ihr nach, höre Tom und Claire, und es brennt, irgendwo brennt es. Lila wird immer kleiner, ich kann nie mit ihr sprechen. Weil ich sie Stück für Stück mehr verliere – die Frau, die ich über alles liebe.

Nicht, weil sie geht, sondern weil ich sie wegstoße. Selbst in meinen Träumen.

Es sind nur noch 4 Tage bis Weihnachten und ich weiß nicht, ob ich den Mut finden werde, ihr die Wahrheit zu sagen.

Armer Tucker, da hat er sich wirklich in eine Situation gebracht, oder? Er sollte mit ihr reden. Bevor sie es tut. Was glaubt ihr, passiert morgen?

Rockt den 4. Advent, meine lieben Rockeronies.

Eure

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