Adventskalender Türchen 3
Tucker
03.12.2025
Der Tag vor der Eröffnung des Festivals beginnt für mich früh.
Und kalt. Es ist noch dunkel, als ich auf den Platz komme, aber wenn wir heute alles schaffen wollen, besonders nach der Lichterprobe gestern, muss ich früh anfangen. Die Krippe unter dem Weihnachtsbaum muss ich auch noch aufbauen. Das mache ich immer erst nach der Lichterprobe, weil sie jedes Jahr anders aussieht und eine Überraschung für die Besucher sein soll. In diesem Jahr habe ich es endlich geschafft, einen Esel aus einem großen Holzstamm zu schnitzen. Jede der Figuren ist von mir. Handgemacht.
Ich ärgere mich noch immer darüber, dass an einem Teil der Hütten die Lichterketten einfach nicht geleuchtet haben. Und der Baum. Darauf warten immer alle am meisten, und er ist einfach dunkel geblieben. Ich habe die ganze Nacht gegrübelt. Irgendetwas habe ich übersehen …
Oder ich war abgelenkt.
Von Lila.
Seit ich sie wieder gesehen habe, bekomme ich sie nicht mehr aus meinem Kopf.
Egal, was ich tue.
Wenn ich abends eine Serie sehen wollte, wusste ich am Ende nicht, worum es ging, weil ich nur an Lila gedacht habe.
An unsere Zeit zusammen.
Als sie gegangen ist.
Und jetzt ist sie wieder da und ich habe keine Ahnung, wie lange sie bleiben wird.
»Tucker? Wir sind hier hinten.«
Ich seufze. Natürlich laufe ich in die falsche Richtung. Verdammte Lila. Wenn ich nicht das Lichterfest ruinieren will, sollte ich arbeiten. Statt nachzudenken.
Heute sind alle früh hier und ich bin dankbar dafür. Nur wenn alle zusammenarbeiten, schaffen wir es, den Fehler zu finden. Das kann in diesem Gewirr an Lichterketten, Schaltern und Steckdosen einfach alles sein. Außerdem gibt es noch Probleme mit einigen Hütten. Roland hatte Wasser in seiner. Das ist nicht nur blöd, sondern auch sehr gefährlich, weil er Strom in der Hütte hat.
Gedanklich mache ich mir eine Liste, was ich alles erledigen muss. Sam und Tony schicke ich schon einmal los, die Lichterketten einzeln zu testen. Ich kann mir einfach nicht erklären, wo der Fehler liegt. Vielleicht muss ich doch Sean bitten, sich das mal anzusehen. Er ist Elektriker, aber ausgerechnet in diesem Jahr hat er eine riesige Baustelle in einem Nachbarort und kann sich kaum Zeit nehmen für das Winterlights Festival. Trotzdem weiß ich, dass ich mich jederzeit melden kann, wenn ich das nicht in den Griff bekomme.
Sean hat mir per Sprachnachricht einige Tipps geschickt, woran es liegen könnte, und ich hoffe, dass der Fehler dabei ist.
Ich reibe meine Hände, die trotz Handschuhen kalt sind. Ich mag den Winter, aber zum Arbeiten ist er manchmal eine Herausforderung.
»Gibt es schon Kaffee?« Sam gähnt und rückt seine Mütze zurecht.
Ich schüttelte den Kopf. »Claire hat noch nicht offen um die Zeit. Da müssen wir noch ein bisschen warten.«
Er gähnt noch einmal, nickt und verschwindet, um sich die ersten Lichterketten vorzunehmen.
Als ich mir einen Überblick verschafft habe, gehe ich noch einmal zu meinem Truck. Die gesamte Ladefläche ist voll mit Werkzeug. Nur für den Fall … Ich habe keine Lust, immer wieder zu meiner Werkstatt zu fahren, nur weil mir ein Teil fehlt.
Weitere Helfer trudeln ein. Verschlafen und noch nicht ganz wach, wenig motiviert. Ich schicke sie zu Sam, der den gesamten Plan für die Lichterketten hat.
Kurz überlege ich, entscheide mich dann aber, mit der Hütte von Roland anzufangen. Die anderen kommen erst mal ohne mich zurecht.
»Tucker?«
Ich erstarre für einen Augenblick. Hebe aber dann den Werkzeugkoffer von meinem Truck und versuche so zu tun, als hätte ich sie nicht gehört.
»Tucker?« Dieses Mal ist die Stimme vorsichtiger. »Kaffee?«
Wie in Zeitlupe stelle ich mein Werkzeug auf den Boden, ehe ich mich umdrehe. Versuche, den Moment hinauszuzögern, so lange es geht, weil ich weiß, was es mit mir machen wird, sie zu sehen.
Und da steht sie.
Lila.
In einem schwarzen Mantel mit Fellkragen – sicherlich nicht echt. Das war Lila schon immer wichtig. Sie sieht aus, wie sie eben schon immer aussah.
Irgendwie elfengleich. Wie eine Fee.
Es hat wieder angefangen zu schneien und die Flocken bleiben auf ihrem Mantel liegen. Sie sieht aus, als wäre sie direkt aus einem Märchen geklettert. Zu mir. Auf den Platz des Winterlights Festivals.
Sie hat einen Korb über dem Arm hängen, darin kann ich Thermoskannen und Tassen erkennen.
Ihr Lächeln ist angespannt. Vorsichtig. Trotzdem bringt es mich völlig aus dem Takt.
»Ich dachte, vielleicht kannst du … könnt ihr, was Warmes gebrauchen?« Ihre Stimme ist so leise, dass ich Angst habe, nicht alles zu verstehen. Wo ist die Lila hin, die früher vor Selbstbewusstsein nur so strotzte?
»Tucker?« Sie hat den Kopf leicht schiefgelegt und sieht mich mit gerunzelter Stirn an.
Ich räuspere mich. Verdammt, ich muss etwas sagen, sie nicht nur anstarren, als wäre sie ein seltenes Tier. »Möchtest du vielleicht einen Kaffee?« Sie zieht eine der Kannen aus dem Korb, ehe sie ihn abstellt und eine Tasse hervorholt.
»Danke, gern«, bringe ich schließlich hervor, und sie gießt mir etwas ein. Reicht mir die Tasse, die ich zwischen meinen beiden Händen halte. Die Wärme lässt meine Finger selbst durch die Handschuhe kribbeln.
Lila steht vor mir. Verlagert ihr Gewicht von einem Bein auf das andere und drückt die Thermoskanne enger an sich, als müsste sie sich daran festhalten.
»Es hat sich wirklich einiges verändert … Ich meine, irgendwie dachte ich immer, dass alles gleich bleiben würde, aber das ist es nicht … hm?«, fragt sie vorsichtig. »Also, das Festival meine ich. Ich war ja nie …«
»Nein, warst du nie.« Meine Antwort kommt schneller und schärfer, als ich es beabsichtigt habe. Verletzter, als ich es ihr zeigen will. »Du warst nie hier.«
Sie blinzelt, um den Schmerz aus ihren Augen zu vertreiben, den ich trotzdem sehe, und ich hasse mich für meine Worte.
Schnell nehme ich einen Schluck des Kaffees, der mir den Gaumen und die Zunge verbrennt. Versuche, durchzuatmen. Es ist zehn Jahre her, Tucker. Reiß dich zusammen.
»Ich meine … du warst schon in New York, als wir das erste Festival hatten. Kurz nachdem du weggegangen bist. Vor zehn Jahren.« Reib es ihr noch unter die Nase. »Wir haben dieses Jahr Jubiläum.« Und deshalb sollte ich eigentlich arbeiten, statt hier mit meiner Vergangenheit zu stehen und gegen meinen Groll anzuschlucken, von dem ich dachte, dass er eigentlich längst vergangen wäre. Ich kratze mich im Nacken. »Du kennst das alles gar nicht.«
»Nein.« Wieder lächelt sie unsicher. Etwas, das ich von Lila nicht kenne. »Meine Mom hat mir Bilder geschickt. Und den Artikel, den es damals in der Zeitung darüber gab. Ich glaube, sie hat sogar mal einen Bericht im Fernsehen aufgezeichnet.« Sie lacht leise. »Du kennst sie ja.«
Ich falle kurz ein. Lasse mich anstecken von dem Geräusch, das ich so lange vermisst habe.
»Das Winterlights Festival ist schnell zu einer Tradition geworden.«
»Wie das Musikfestival«, meint Lila, und ich nicke, ehe ich mit einer Hand hinter mich auf den Platz deute.
»Die Touristen mögen es wirklich. Es ist gut für Silver Pines. Und na ja, ich glaube, wir mögen es alle.«
Ich trinke noch einen Schluck. Folge Lilas Blick, der über die Hütten schweift, am Weihnachtsbaum hängen bleibt. Ihre Züge sind weich, aber irgendwie traurig.
»Es ist wirklich wunderschön. Viel schöner, als Mom es mir am Telefon erzählen konnte.«
Warum auch immer: Ihre Aussage trifft mich. Als wäre ihr Lob mehr wert, als das von anderen. Vielleicht auch, weil sie endlich da ist und es selbst sieht. Weil sie es so viele Jahre verpasst hat, wenn sie nicht … Nein. Sie lebt ihren Traum. Sie wäre hier auf Dauer nie glücklich geworden, und das weißt du, Boone.
»Ja, ist es.« Mein Ton ist schnippisch.
Lila seufzt und schiebt die Thermoskanne zurück in ihren Korb. Ihre Finger zittern, als sie das tut. Es ist inzwischen hell genug, dass mir das auffällt.
»Mom und Dad haben mir nie gesagt, dass du so viel für das Festival machst … Aber alle in der Stadt reden darüber, dass du derjenige bist … na ja, der das Winterlights Festival mit aufgebaut hat.«
Ich zucke mit den Schultern und trinke von meinem Kaffee.
»Irgendwer musste es tun. Dabei hat nicht mal alles funktioniert gestern«, werfe ich ein, um die seltsame Stimmung zwischen uns aufzubrechen.
»Das bekommt ihr schon hin. Du bekommst doch immer alles hin.« Ich erstarre bei ihren Worten. Sie schmerzen mehr, als ich zulassen will. »Ich hätte nie gedacht …«
»Ja, ich weiß«, unterbreche ich sie. Viel zu abrupt. Zu hart. »Dass ich bleibe. Ich weiß.«
Darüber will ich nicht sprechen. Nicht mit ihr, nicht jetzt.
Sie beißt sich auf die Lippen. Sieht mich mit großen Augen an, ehe sie tief einatmet. Sie will etwas sagen. Etwas, das meine Welt aus den Angeln heben könnte.
Es liegt in der Luft. So greifbar wie ein Gewitter.
»Tucker! Kommst du mal, wir haben hier noch ein Problem mit Hütte 47.«
Natürlich. Trotzdem bin ich froh, über die Unterbrechung. Perfekter könnte sie nicht getimt sein.
Ich zwinge mich, meinen Blick von Lila abzuwenden, obwohl ich ihren deutlich auf mir spüren kann.
»Komme«, rufe ich nach hinten und trinke meinen Kaffee aus. Sehe Lila wieder an. »Ich muss weitermachen.« Meine Stimme ist leise, als hätte ich Angst, jemand könnte uns hören. »Viel zu tun, alles muss heute fertig werden.«
»Verstehe«, sagt sie, und ich reiche ihr die Tasse.
Als sie sie mir abnimmt, berühren sich unsere Finger. Und obwohl sie in Handschuhen stecken, ist es, als wäre dieser Hauch genug, um mein Herz zum Stillstand zu bringen. Schnell ziehe ich meine Hand zurück, als hätte ich mich an ihrer verbrannt. Ich weiß, dass es ihr auffällt. Ich sehe es an ihrem Blick.
»Du musst das hier nicht machen«, sage ich.
»Ich wollte nur helfen. Wenn ich schon hier bin …« Sie sagt es mit einem Lächeln in der Stimme, aber in ihrem Blick liegt etwas, das ich nicht deuten kann. Etwas, das mich nervös macht.
Also nicke ich, weil ich Angst davor habe, wie meine Stimme klingt. Oder weil ich etwas Dummes sage.
Dann gehe ich. Aber ich spüre ihren Blick in meinem Rücken, während jeder Schritt von ihr weg sich so schwer anfühlt und meine Gedanken wie ein Karussell fliegen lässt.
Warum ist sie wirklich hier? Warum kann mein verfluchtes Herz nicht mit ihrer Nähe umgehen? Es ist, als wäre ihr Besuch ein Erdbeben. Und vielleicht ist er das auch.
Ich muss sie fragen, wie lange sie bleibt, sonst komme ich nicht zur Ruhe, aber ich weiß nicht, wie ich das machen soll.
Alles in mir schreit, dass ich mich noch einmal umdrehen soll. Ich weiß, sie wird nicht gehen. Sie hat den Kaffee nicht nur für mich mitgebracht.
Ich verstecke mich in Rolands Hütte, bis ich sie nicht mehr auf dem Platz sehe. Zwinge mich den ganzen Tag, weiterzuarbeiten, und ertappe mich immer wieder dabei, dass ich einfach in die Luft starre und an sie denke.
Lila Monroe. Das Mädchen, das mir schon in der Highschool den Kopf verdreht hat.
Sie ist wieder da und ich? Ich bin so durcheinander, dass ich den Esel neben Maria stelle und Josef zu den Schafen.
Das werden lange 22 Tage.
Bis morgen in Silver Pines, meine Rockeronies
eure