Adventskalender Türchen 19
Tucker
19.12.2025
In meiner Werkstatt ist es ruhig, irgendwie zu ruhig. Dabei will ich eigentlich aufräumen, das Chaos der letzten Tage. Und da ist Ruhe doch gut, oder? Und trotzdem stört es mich. Ich schalte das Radio an, Weihnachtslieder. Davon höre ich eigentlich genug jeden Abend auf dem Festival, aber egal. Ich fange an, mich mit dem Aufräumen zu beschäftigen. Ich hatte nicht mal Zeit, mein Werkzeug aufzuräumen, und das hasse ich, weil ich genau weiß, dass ich es nicht mehr finde, wenn ich ein neues Projekt anfange. Alles hier hat seinen Platz.
Eine Plane liegt auf dem Boden. Alles ist voller Holzspäne.
Stück für Stück nehme ich mir die Werkstatt vor. Sortiere, putze und bringe wieder Ordnung in mein Chaos.
Dabei ist Lila die ganze Zeit in meinem Kopf.
Jede Kleinigkeit, die gestern war. Am Wunschbaum.
Der Kuss.
Ihre Art, wie sie gesagt hat, dass sie für uns kämpft.
Ich lächle. Vielleicht wird das wirklich gut und vielleicht finden wir einen Weg.
Gegen Mittag bekomme ich Hunger und gehe ins Haus. Die Werkstatt sieht schon wieder viel besser aus. Zeit, dass ich mich am Nachmittag um neue Anfragen und Angebote kümmere. Außerdem warten immer noch offene Projekte auf mich.
Das Haus sieht ähnlich aus, wie die Werkstatt. Im Dezember schaffe ich wegen des Festivals immer nur das Nötigste.
Als ich in der Küche nach etwas Essbarem suche, sehe ich es.
Halb verdeckt von einem Küchentuch, neben einer Steckdose, das Kabel eingesteckt. Ich erinnere mich, wie wir gehofft haben, dass der Strom vielleicht doch bald wieder da ist.
Lilas Handy.
Sie muss es hier vergessen haben, und so wie es aussieht, hat sie es noch nicht einmal vermisst. Ich stöpsle es ab und will es gerade einstecken, damit ich es ihr bringen kann, als es vibriert und das Display zum Leben erwacht.
Ein Anruf.
Mein Herz setzt einen Schlag aus, als ich den Namen im Display lese: NYC Ballet School.
Ihr Job?
Ich weiß nicht, was ich denken soll, so viel geht mir durch den Kopf. Sie wollen sie zurückholen. Geht sie zurück? Ist es nur ein Anruf, um herauszufinden, wie es ihr geht?
Das Telefon vibriert weiter. Hartnäckig.
Alles in mir schreit, dass ich nicht rangehen sollte. Dass es nur Lila etwas angeht und nicht mich. Aber … was, wenn es wichtig ist? Oder ein Notfall?
Bevor ich mich selbst aufhalten kann, drücke ich auf den grünen Knopf, um das Gespräch anzunehmen.
»Hallo?«
»Oh«, eine kurze Pause. Dann, von einer Frauenstimme, freundlich und professionell: »Hallo. Ich wollte eigentlich mit Lila Monroe sprechen. Ist sie da?«
»Hi, Entschuldigung … ich … hier ist Tucker Boone und Lila ist leider nicht da. Sie hat ihr Handy vergessen. Kann ich ihr etwas ausrichten?« Ich fahre mir durch die Haare, keine Ahnung, wieso mich das so nervös macht.
»Ah, wunderbar.« Sie klingt erleichtert, was mich noch mehr irritiert. »Mein Name ist Rebecca Walsh, ich rufe von der New York City Ballet School an. Wir haben schon seit einigen Tagen versucht, Lila zu erreichen, aber sie geht nicht ans Telefon.«
Ich schließe für einen Moment die Augen.
»Ähm … ja. Wir hatten hier einen Schneesturm … Dann war der Strom weg, der Akku war leer, und dann hat sie es liegen lassen …« Warum stottere ich eigentlich so?
»Ach ja, stimmt. Wir haben davon gehört. Furchtbar!« Sie lacht. »Könnten Sie ihr bitte ausrichten, dass wir sie dringend sprechen müssen und sie sich bei uns meldet? Es geht um eine Position, die sich kurzfristig ergeben hat, und wir denken, Lila wäre perfekt dafür.«
Ich schlucke, mein Hals ist furchtbar trocken.
»Eine Position?«, höre ich mich fragen, dabei sollte ich das nicht. Es geht mich nichts an.
»Genau. Wir suchen eine Ballettlehrerin für unser Fortgeschrittenenprogramm, da die bisherige Leiterin leider aufhören musste. Wir haben sofort an Lila gedacht, weil wir auch von ihrem Unfall gehört haben, und sie war eine unserer besten Tänzerinnen, und es wäre die Gelegenheit, sie wieder bei uns zu haben.«
Jedes Wort schmerzt mich.
»Als … Lehrerin?« Warum frage ich noch weiter?
»Genau. In Festanstellung, sehr gutes Gehalt, volle Krankenversicherung, Altersversorgung, alles inklusive. Und natürlich wäre sie auch wieder fester Bestandteil der New Yorker Ballett-Community. Wir vermissen sie alle sehr.«
Ich habe das Gefühl, jemand drückt mir die Kehle zu.
»Wann … also wann soll sie anfangen?«
»Anfang Januar, wenn das für sie passt. Es ist ja sehr kurzfristig, aber wir hoffen wirklich, dass Lila interessiert ist. Das wäre eine wirklich großartige Chance für sie, zurückzukommen. Ohne den Druck, selbst wieder tanzen zu müssen, aber als großer Teil einer Welt, die sie so sehr liebt.«
Wenn ich das Handy noch fester halte, zerbricht es in meiner Hand.
»Verstehe«, bringe ich hervor.
»Es wäre toll, wenn Sie ihr das ausrichten könnten und sie sich bei mir so schnell wie möglich meldet. Wir würden das Thema gern noch vor den Feiertagen klären und ihr den Vertrag zukommen lassen.«
»Ja … natürlich. Ja, das mache ich.«
»Wunderbar. Haben Sie herzlichen Dank, Tucker. Und schöne Feiertage.«
»Wünsche ich Ihnen auch.«
Dann legen wir auf. Und ich stehe da, Lilas Handy in meiner Hand, und starre ins Leere.
Die Gedanken in meinen Kopf rotieren.
New York.
Mit einer Festanstellung als Ballettlehrerin. Sie wird nicht mehr tanzen? Warum hat sie nichts gesagt?
Schon Anfang Januar …
Natürlich. In dem Moment, wo ich denke, dass vielleicht alles gut werden kann, ruft die Ballettschule mit dem Jobangebot an.
Es bestand immer die Möglichkeit, dass sie geht. Auch wenn sie gesagt hat, sie will bleiben. Sie ist immer noch Lila …
Ich lege das Handy auf den Tisch. Starre es an, als wäre es eine Bombe. Und genau so fühlt es sich an.
Eigentlich sollte ich ihr das Handy bringen. Sie bei ihren Eltern anrufen.
Sofort.
Ich muss ihr von dem Anruf erzählen. Es geht um ihre Zukunft und es ist ihre Entscheidung.
Aber ich kann es nicht. Ich kann mich nicht bewegen. Meine Hände zittern, mein Atem ist flach und in meinem Kopf schreit alles nur noch.
»Du wusstest es doch immer. Sie wird gehen. Natürlich. New York war immer ihr Traum. Silver Pines war ihr zu schwer. Zu eng, zu klein. So war es damals, warum sollte es jetzt anders sein? Das ist ihre Chance, wenn sie wirklich nicht mehr tanzen kann, dann ist sie immer noch Teil der Welt, für die sie atmet. Es ist alles, was sie sich nur wünschen kann. Es gibt keinen Grund, bei mir zu bleiben. Nichts habe ich ihr zu bieten, was größer und besser ist als New York. Das Ballett.«
Wie als hätte mich jemand geschlagen, taumele ich zurück, lasse mich auf einen Stuhl am Esstisch fallen. Ich fahre mir mit den Händen über mein Gesicht, lasse den Kopf darin ruhen.
Versuche, ruhig zu atmen, aber es gelingt mir nicht.
Keine Ahnung, wie lange ich hier sitze. Es könnten Minuten, aber auch Stunden sein, während Lilas Handy weiter vor mir liegt.
Jetzt ist es still. Das Display dunkel.
Ich sollte endlich aufstehen und es ihr bringen. Ich habe versprochen, dass ich ihr ausrichte, wer angerufen hat. Aber die Angst, dass sie Ja zu dem Angebot sagt, wuchert in mir wie ein Geschwür. Was, wenn sie direkt zurückruft und in einer Woche geht? Wieder einfach geht?
Was, wenn alles, was zwischen uns passiert ist – der Kuss, die Umarmungen, unsere Gespräche und vor allem ihre Worte „Ich kämpfe für uns“, nur aus dem Moment heraus waren, weil sie denkt, dass New York für sie für immer vorbei ist?
Ich schließe die Augen.
»Ich möchte nur noch ein paar Tage. Ein paar leichte Tage mit Lila. Bevor sie sich wieder zurückzieht, weil sie weiß, dass sie gehen wird. Dass sie nicht mal darüber nachdenken muss. Ich sage es ihr noch nicht … nur bis Weihnachten. Dann sage ich es ihr.«
Mein Herz zieht sich zusammen. Ich weiß, dass das, was ich mache, falsch ist. Ich sollte doch in erster Linie ihren Worten vertrauen oder? Und vor allem sie nicht anlügen. Aber ich kann nicht … Dass sie schon mal gegangen ist, sitzt tiefer, als ich dachte.
Nichts von dem, was ich wollte, schaffe ich. Am Abend gehe ich zum Festival. Mein Stand will betreut werden und es ist die Wiedereröffnung nach dem Blizzard. Wir erwarten viele Besucher nach der Zwangspause und als ich ankomme, sind schon viele Menschen da. Ich bin einer der Letzten, der seinen Stand eröffnet. Die Musik spielt, Kinder laufen herum, es liegt noch immer Schnee und alles sieht nach dem perfekten Wintermärchen aus. Nur in mir tobt ein Sturm, der alles leer gefegt hat.
Nach außen ist alles wie immer. Ich bin da, verkaufe meine Arbeiten, lächle, wenn es passt und rede mit Kunden. Aber innerlich bin ich woanders. Spüre Lilas Handy in meiner Jackentasche, als würde es dort ein Loch hinein brennen. Immer wieder suche ich den Platz nach ihr ab, hin und hergerissen zwischen „hoffentlich kommt sie“ und „hoffentlich kommt sie nicht“.
Als ich sie sehe, stolpert mein Herz.
Lila kommt über den Platz gelaufen, dick eingepackt in ihrer Winterjacke, eine Mütze tief über die Ohren gezogen. Sie steuert direkt auf meinen Stand zu. Kein suchender Blick wie am Anfang ihrer Rückkehr. Sie weiß, wo sie mich findet und zu wem sie will.
Zu mir.
Als sich unsere Blicke treffen, winkt sie mir und beschleunigt ihren Schritt. Das Handy in der Jackentasche wird schwerer und schwerer, als wollte es mir sagen, dass ich es ihr sagen muss. Dass ich es ihr geben soll.
Aber ich weiß, ich kann es nicht.
»Hi.« Die Atemwölkchen tanzen vor ihrem Mund, als sie mich erreicht.
»Hi.« Heute bin ich froh, dass uns die Theke von meinem Stand trennt.
»Wow, es ist so viel los heute.«
»Ja.« Ich zwinge mich zu einem Lächeln. »Ich glaube, alle sind froh, dass das Festival wieder offen ist.«
»Kann ich verstehen.« Sie sieht sich um. »Es sieht wirklich toll aus. Ihr habt großartige Arbeit geleistet.«
»Danke.« Ich drehe ein Ornament in meinen Fingern und Schweigen senkt sich über uns.
Lila mustert mich, ihr Kopf leicht zur Seite geneigt.
»Tucker? Ist alles okay?«
»Ja, alles gut.« Wieder schenke ich ihr ein gezwungenes Lächeln.
»Bist du sicher?« Sie hebt eine Augenbraue. »Du wirkst … anders.«
»Nein, ich bin nur müde. War viel in den letzten Tagen.«
Einen Moment sieht sie mich nur an, ehe sie nickt. Aber ich weiß, dass sie mir nicht ganz glaubt. »Okay. Wenn du sicher bist …«
»Bin ich«, unterbreche ich sie viel zu schnell.
Ich bitte sie in meinen Stand, aber wir küssen uns nicht. Ich kann einfach nicht und es tut mir unfassbar weh. Lila bleibt eine Weile, hilft mir, Sachen zu verkaufen, und spricht mit den Kunden. Aber es ist nicht mehr so leicht, wie in den letzten Tagen. Ich weiß, dass ich distanziert bin. Total verkrampft.
Ich kann nicht anders, denn jedes Mal, wenn ich Lila ansehe, denke ich an das Handy. An den Anruf und an New York. Ich weiß, ich könnte es ändern, wenn ich es ihr einfach gebe …
Irgendwann sagt sie: »Ich gehe dann mal. War ein langer Tag.«
»Okay.« Mehr kann ich nicht sagen. Dabei würde ich sie so gern in den Arm nehmen, sie fragen, ob sie nicht bei mir bleiben will, heute Nacht … für immer. Aber ich weiß, sie wird gehen. Warum also alles noch schlimmer machen?
Gib ihr das Handy, Tucker.
Kurz bevor sie geht, dreht sie sich noch einmal um und legt eine Hand auf meinen Arm. Es ist, als würde ich verbrennen. »Tucker, du weißt, dass du auch immer mit mir reden kannst, okay?«
»Ich weiß.«
Sie sieht mich lange an, als würde sie versuchen, mich zu durchschauen. Dann küsst sie mich auf die Wange und geht.
Ich sehe ihr noch lange nach und in mir zerbricht etwas. Ich sollte ihr das Handy geben. Das bin nicht ich. Das ist die Angst, die mich ihr nicht die Wahrheit sagen lässt.
Dieser Abend auf dem Festival zieht sich in die Länge. Ich habe das Gefühl, die Leute wollen gar nicht mehr nach Hause gehen. Ich bin erleichtert, als es sich endlich leert und ich alleine an meinem Stand stehe. Noch immer mit Lilas Handy in meiner Tasche. Ich ziehe es heraus und sehe es an. Der Bildschirm ist dunkel. Noch könnte ich es ihr einfach bringen. Ihr sagen, dass ich in dem Trubel auf dem Festival ganz vergessen habe, es ihr zu geben. Dass es mir leid tut.
Aber dann … würde sie die Anrufe sehen und ich müsste ihr sagen, dass ich mit New York gesprochen habe, ehe sie es von der Ballettschule erfährt.
Sie würde sich entscheiden.
Ich schiebe das Telefon zurück in die Tasche. So tief, bis es nicht mehr geht.
Morgen. Morgen gebe ich es ihr. Nur noch eine Nacht, in der ich so tun kann, als wäre alles in Ordnung, auch wenn ich weiß, dass das eine Lüge ist.
In dieser Nacht kann ich nicht schlafen – wie so oft, seit Lila wieder in Silver Pines ist. Ich sitze in der Werkstatt, aber ich tue nichts. Sitze einfach da, Lilas Handy vor mir auf der Werkbank.
Ich habe versprochen, Lila die Nachricht auszurichten. Ich bin niemand, der seine Versprechen bricht. Trotzdem habe ich es nicht getan und habe keine Ahnung, wie ich jetzt da rauskommen soll.
Es sind nur noch 6 Tage und ich bin nicht sicher, ob Lila und ich das schaffen.
Oh oh, Tucker …
Das kann im Grunde nicht gut enden, richtig? Seine Angst, Lila zu verlieren, lässt ihn sich selbst verraten, denn Tucker lügt niemanden an und bricht keine Versprechen.
Kann es noch ein Happy End geben?
Wir werden es erleben und bis dahin, rocken wir unsere Tage, meine Rockeronies.
Eure